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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel
Autoren: Michael Ende
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gekrümmter Fötus mit aufgetriebener Stirn. Sie legte ihn, nackt wie er war, sorgsam in die Tiefe der Erdspalte auf den Boden. «Schu schu, mein Kleinchen, schlaf jetzt.» Er sah, wie sie zu den Kindern zurückkehrte, die unter den Bäumen warteten. Dann begann der Schoß der Erde sich langsam, unmerklich langsam zu schließen. Hinter der schwarzen Gruppe der Kinder und der Alten ging plötzlich die ganze, riesige Zitadelle in Flammen auf. Das Feuer glich einer einzigen ungeheuren Papageientulpe.

DER ZIRKUS BRENNT.
     
    Das Publikum ist Hals über Kopf geflohen. Das Zuschauerrund ist leer, das Zelt von Rauch und Feuer erfüllt. Der Clown steht allein in der Manege. Sein Paillettenkostüm funkelt im Schein der Flammen. Sein Gesicht ist weiß wie Kalk, unter dem linken Auge glitzert die vorgeschriebene Träne. Auf dem Kopf sitzt ihm schief seine kleine spitze Mütze. Er bläst auf blitzender Trompete die große Abschiedsmelodie, erhaben und lächerlich.
    Alles ist Traum. Ich weiß, daß alles Traum ist. Ich habe es immer gewußt, seit ich angefangen habe zu träumen, daß ich existiere: Diese Welt ist nicht wirklich.
    Er hat sein Lied zu Ende gebracht, ohne Eile und ohne Makel. Er geht hinaus, und hinter ihm brechen die brennenden Balken und Masten ein, die Leinwand bläht sich vom Feuer und sinkt in sich zusammen. Der Nachtwind riecht nach Asche und Hitze.
    Draußen stehen die anderen und sehen mit hängenden Armen dem Brand zu. Alle wußten, daß es so kommen würde. Keiner hat Anstalten gemacht, irgend etwas zu retten. Keiner hat nach dem Clown gerufen, während er in den wirbelnden Funken stand, keiner war besorgt um ihn, auch er selbst nicht. Ihre Gesichter sehen im Widerschein aus wie die von Schlafenden. Es hat ein wenig zu regnen begonnen, aber zu spät und längst nicht genug, nur gerade eben so viel, daß allen die Haare naß in die Stirn hängen.
    Wenn man im Traum weiß, daß man träumt, ist man kurz vor dem Aufwachen. Ich werde gleich aufwachen. Vielleicht ist dieses Feuer nichts anderes als der erste Strahl der Morgensonne einer anderen Wirklichkeit, der sich unter meine geschlossenen Lider drängt.
    Langsam wird es dunkel. Der Brand sinkt nach und nach in sich zusammen. In den Häusern ringsum ist kein Fenster erleuchtet. Sie stehen schwarz und hohläugig in der Dämmerung. Von ferne hört man Geschrei, dann einige Schüsse und das harte Bellen einer Maschinenpistole. Es sind die üblichen Geräusche, die die Nacht ankündigen, die Nacht voller Mord, voller Qualen und Verhöre, die Nacht, in der keiner keinem traut. Es ist verboten aufzuwachen. Schon der Wunsch aufzuwachen gilt als Fluchtversuch, als Hochverrat. Man muß ihn geheim halten.
    «Wenn ihr mich fragt», sagt der Direktor im Dunkeln, «haben sie das Feuer gelegt, als Vergeltung oder als Warnung ...»
    Er stochert in der Asche. Alle wissen, wovon er redet. Vor zwei Tagen ist einer umgebracht worden, mitten zwischen den Zuschauern. Es war einer von der Mordmiliz, einer der Aufseher, die überall sind. Als alle Leute gegangen waren, saß er noch immer da in seiner schwarzglänzenden Lederuniform, aber er war tot, erwürgt. Niemand hatte es bemerkt, als es geschah, niemand hatte es bemerken wollen.
    «Das hat keiner von uns gemacht», sagt jemand.
    «Nein», antwortet der Direktor, «aber das hilft uns nichts, wie ihr seht.»
    Nach langem Schweigen murmelt eine Frauenstimme: «Das kann doch nicht ewig so weitergehen.»
    «Das geht so weiter», sagt der Direktor, «bis wir dem ein Ende machen. Darum geht es ab jetzt.»
    Es geht darum aufzuwachen.
    «Wenn wir nichts unternehmen», fährt der Direktor fort, «wird es immer so weiter gehen. Wir müssen uns entscheiden. Wir müssen kämpfen. Wir müssen uns denen, die kämpfen, anschließen.»
    Der Clown wendet sich ab und schlurft durch die Pfützen zu seinem Wohnwagen. Er ist plötzlich todmüde. Lange Zeit sitzt er vor dem Spiegel und betrachtet sein mehlweißes Gesicht mit der Träne unter dem linken Auge. Dann beginnt er, sich abzuschminken. Darunter kommt ein anderes Gesicht zum Vorschein. Es ist noch viel unwirklicher, ein Niemandsgesicht, ein Irgendgesicht, es ist ihm ganz fremd, es war ihm immer fremd, dies Gesicht. Er versucht einen Augenblick intelligent oder wenigstens ernsthaft auszusehen, aber gleich fallen seine Züge in ihren Ruhezustand zurück, in den Zustand gewohnheitsmäßiger Verwunderung. Es ist das Gesicht eines alten Säuglings.
    Erstaunlich genug, daß ich da bin. Aber noch
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