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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel
Autoren: Michael Ende
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sich zwischen den Tischen hindurch den Weg zu einer Tür bahnt, die in der Seitenwand des langen Raumes ist. Dort dreht er sich noch einmal um und macht ein aufforderndes Zeichen mit der Hand. Als er die Tür öffnet, wird für einen Augenblick Stimmengewirr hörbar, auch Frauenstimmen sind darunter, sie klingen erregt, als sei ein Streit im Gange. Möglicherweise ist es der Eingang zur Küche.
    Ich will nicht reden. Ich will überhaupt nie wieder reden müssen. Ich habe nichts mehr zu sagen.
    Der Clown klettert rasch über das Geländer auf einen der langen Tische hinunter und läuft, vorsichtig darauf bedacht, keinen zu berühren, zwischen den Köpfen der Schläfer und den Biergläsern auf das Ende der Platte zu. Er will sich aus dem Staub machen.
    Es hilft nichts zu fliehen. Es gibt keine Zuflucht.
    Eben will er auf den Boden hinuntersteigen, da öffnet sich noch einmal die Küchentür, und der Direktor streckt den Kopf herein.
    «Hast du schon angefangen?»
    «Noch nicht», antwortet der Clown mutlos, «ich bin eben dabei.»
    «Mach schnell!» sagt der Direktor, «ich verlasse mich auf dich.» Sein Kopf verschwindet.
    Der Clown richtet sich auf. Er steht auf dem Tisch und dreht sich nach allen Seiten, dann verschränkt er die Arme auf dem Rücken wie ein Schulkind, das ein Gedicht aufsagen soll.
    Hochverehrtes Publikum, meine lieben Träumer!
    Die nächste Nummer, die nun folgt, ist einmalig auf der Welt und erfordert äußerste Konzentration. Darum bitten wir um völlige Stille und einen Trommelwirbel. Dies ist der Augenblick der Wahrheit, aber ich weiß, ehrlich gesagt nicht, was ein Augenblick ist, und ich weiß nichts von der Wahrheit, und wen ich mit «ich» meine, weiß ich am allerwenigsten.
    Als ich in diesen Traum kam, den ihr die Welt nennt, war er schlimm, und er ist schlimm geblieben oder noch schlimmer geworden. Ich habe kein Gedächtnis. Ich kann euch keine Einzelheiten erzählen. Immer vergesse ich alles. Ich dachte mir, daß es der verkehrte Traum oder die verkehrte Welt ist, in die ich da geraten bin. Oder vielleicht war ich der Verkehrte für diese Welt, für diesen Traum. Man hat mich verprügelt und eingesperrt, man hat mich gelobt und mir viel Geld gegeben zuzeiten, obwohl ich immer derselbe war und das gleiche tat.
    Darum habe ich mich darauf verlegt, euch lachen und weinen zu machen. Das war es, was ich konnte.
    Der Clown fühlt sich ein wenig gestört, weil ihn ein fliegender Bierglasuntersetzer aus filzartiger Pappe getroffen hat. Offenbar hat ihn jemand mutwillig zur Zielscheibe eines Scherzes erwählt. Er wendet sich nach dem Spaßvogel um und erblickt auf jener Empore, wo er noch eben mit dem Direktor saß, einen großen, glatzköpfigen, athletisch gebauten Mann, der ihm einfältig zulacht und fortfährt, mit den runden Filzuntersetzern nach ihm zu werfen. Offenbar handelt es sich um den Schankburschen des Lokals, denn er trägt eine grüne Schürze. Der Clown, in der Annahme, daß der Muskelmann es nicht böse meint, gibt ihm durch eine Handbewegung zu verstehen, daß er jetzt an dem Spiel nicht teilnehmen könne, weil er mit Wichtigem beschäftigt sei. Dabei lächelt er gewinnend, um den dumpfen Menschen nicht zu reizen. Da der jedoch grinsend mit seiner Belästigung fortfährt, steigt der Clown auf einen anderen, weiter entfernt liegenden Tisch hinüber.
    Ich warte und warte darauf, endlich aufzuwachen, aber ich kann nicht. Wie ein Schwimmer, der unter die Eisdecke geraten ist, suche ich nach einer Stelle zum Auftauchen. Aber da ist keine Stelle! Mein Leben lang schwimme ich mit angehaltenem Atem. Ich weiß nicht, wie ihr es schafft.
    Der Clown muß sich bücken, um einigen neuerlichen, gutgezielten Bierglasuntersetzern zu entgehen. Da er aber doch wieder von einigen Wurfgeschoßen getroffen wird, nimmt er nun seinerseits eine der auf dem Tisch liegenden durchweichten Pappscheiben auf und wirft sie nach dem Schankburschen, immer lächelnd natürlich und in der Hoffnung, den einfältigen Kerl damit endlich zufriedenzustellen oder ihn dazu zu bewegen, dieses dumme Spiel zu beenden. Der Schankbursche hält auch tatsächlich überrascht inne. Der Clown schaut sich nach allen Seiten um, in der Hoffnung, der Direktor sei endlich zurückgekommen, um die Situation in die Hand zu nehmen. Aber der ist noch immer nirgends zu sehen.
    Oder weiß unser Träumer am Ende überhaupt nicht, daß er uns alle nur träumt? Kann ich, sein Traum, es ihm begreiflich machen, damit er endlich aufwacht? Und
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