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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel
Autoren: Michael Ende
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nie gedacht.»
    Er war so von der Schönheit der Stimme gefangen, daß er zunächst nicht auf die Worte des Liedes achtete. Ein eigentümliches Beben in ihr berührte ihn beinahe körperlich im tiefsten Inneren. Besonders wenn sie von der Höhe in die Tiefe umschlug, war es ein kleiner hysterischer Bruch, der ihn regelrecht in die Herzgrube traf. Er lauschte hingerissen, und nun drangen auch die Worte in sein Bewußtsein:
     
    «Wanderer im Weltgetriebe, ziellos in der Zeit sind wir. Nur durch selbstlos reine Liebe kommst du an im Jetzt und Hier. Seele, mache dich bereit: Jetzt und Hier ist Ewigkeit!»
     
    Danach trat sie zurück und war seinen Blicken entschwunden. Die Orgel brauste von neuem und variierte das Thema. Auf der anderen Seite, am Altar, wurde wieder das Tabernakel geöffnet, und Stöße von Geldbündeln fielen heraus.
    «Zehntausendfünfhundertachtzehn ...», dröhnte der Lautsprecher, «zehntausendfünfhundertsiebzehn ...»
    Ein Bettelweib mit einer Kiepe voller Geldscheine stellte im Vorüberdrängen die Spitze einer ihrer Krücken auf den Fuß des Feuerwehrmannes und weckte ihn aus seiner Verzauberung. Er schaute sich nach der Reisetasche der Sängerin um, die sie ihm in Obhut gegeben hatte, und mußte zu seinem Schrecken feststellen, daß sie verschwunden war. Er drängte sich durch die Menge des Lumpengesindels, suchte und spähte umher, konnte sie aber nirgends entdecken. Offensichtlich war sie gestohlen worden, während er dem Gesang gelauscht hatte, vielleicht auch schon früher, als er von dem Bauchladenmann ins Gespräch verwickelt worden war. Er verfluchte sich wegen seiner Unaufmerksamkeit. Jedenfalls mußte er der jungen Frau sofort Bescheid geben.
    Er warf sich in die schreiende Masse des Gelichters, wurde1 von einem Mahlstrom erfaßt und mitgerissen und landete schließlich, rudernd und um sich stoßend, am Fuß der Treppe, die zur Empore führte. Als er versuchte hinaufzusteigen, wurde er von ein paar verschlagen aussehenden Burschen überwältigt, die ihm, ehe er noch recht begriffen hatte, was geschah, die Arme auf den Rücken drehten.
    «Bist du Aktionär?» fragte einer.
    Der Feuerwehrmann schüttelte den Kopf.
    «Was willst du dann hier?»
    «Ich muß der Sängerin etwas sagen. Es ist dringend. Lassen Sie mich gefälligst los!»
    Die Burschen wechselten Blicke, dann schoben sie ihn vor sich her die Treppe hinauf. Auch hier waren wie überall Kerzen aufgestellt, sogar auf dem Geländer und auf den Stufen.
    Oben am Orgeltisch saß ein mächtiger Mann mit nacktem, schweißnassem Oberkörper vor der Tastatur. Sein langes, graues Haar und sein Bart waren ein verfilztes, fettiges Gestrüpp, sogar auf den Schultern und dem Rücken wuchs ihm ein borstiges Fell. Rittlings auf seinem Schoß, die Arme um seinen Nacken geklammert, saß die junge Frau. Ihre schwarze Kutte war bis zur Hüfte hochgerafft, darunter war sie nackt. Ihr Gesicht war von Schweiß und Tränen überströmt. Sie hielt die Augen geschlossen, den Mund wie zu einem unhörbaren Schrei aufgerissen, während er mit weitausholenden Bewegungen seiner Arme und Beine das Instrument bearbeitete. Die Töne ließen die ganze Empore vibrieren.
    Die Kerle stießen den Feuerwehrmann weiter, so nahe an das Paar heran, daß sein Gesicht fast das ihre berührte. Jetzt hörte er, daß die beiden schreiend miteinander sprachen.
    «Ist es schon dunkel?»
    «Noch nicht, Liebster.»
    «Sobald es dunkel ist, hauen wir ab.»
    «Ja, Liebster.»
    «Mach dir keine Sorgen, Kleine. Wir kommen hier 'raus, ich hab dir's versprochen. Ich bin bis jetzt noch überall 'rausgekommen. Jedenfalls der größte Teil von mir. Im Dunkeln bin ich im Vorteil.»
    «Es wird nie dunkel werden!» schrie sie, «das wird nie aufhören! Wir werden nie ankommen!»
    «Entschuldigung!» rief der Feuerwehrmann,
    «ich... ich möchte nicht stören, tut mir leid. Es ist nur wegen Ihrer Tasche. Sie ist leider gestohlen worden.»
    «Na und?» antwortete die junge Frau, ohne die Augen zu öffnen, «ich wäre nur froh, wenn ich sie los wäre. Deswegen habe ich sie Ihnen ja in Obhut gegeben. Aber es wird mir nichts helfen. Sie kehrt immer wieder zu mir zurück. Ich habe schon alles versucht.»
    Der Mann brach das Orgelspiel ab. Langsam wendete er den Kopf und fragte: «Mit wem redest du, Kleine? Wer ist da?»
    «Ich weiß nicht», antwortete sie, noch immer mit geschlossenen Augen, «irgendwer.»
    Der Feuerwehrmann sah das Gesicht des Organisten und erschrak. Beide Augenhöhlen waren
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