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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel
Autoren: Michael Ende
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Nachdrängenden nahmen ihre Plätze ein. Auf den Leitern turnten fortwährend behende Handlanger auf und ab und deponierten die Geldscheinbündel irgendwo hoch droben an den Wänden.
    Erst jetzt bemerkte der Feuerwehrmann, daß sämtliche Mauern, sämtliche Säulen und Pfeiler, auch der des Torbogens, gegen den er gedrängt stand, aus solchen aufgetürmten Geldscheinbündeln bestanden. Die ganze Kathedrale war aus Papiergeldziegeln errichtet. Und weiter und weiter wurde an ihr gebaut, denn jedes Öffnen des Tabernakels spie neue Mengen aus. Die tausend und abertausend Kerzenflammen tanzten und wehten, und das Wachs rann und tropfte.
    «Gott im Himmel!» murmelte er, «das ist gegen jede Sicherheitsvorschrift! Das ist hellichter Wahnsinn!»
    Er nahm seinen Helm ab und wischte mit dem Taschentuch das Innenleder trocken. Seine Jacke hatte er aufgeknöpft. Die Orgel verstummte.
    «Würden Sie mir einen Gefallen tun?» fragte die junge Frau, die ihn schweigend beobachtet hatte, «ich muß rasch auf die Empore. Es wird nicht lang dauern. Könnten Sie inzwischen auf meine Tasche achtgeben?»
    Er nickte abwesend, ohne seinen Blick von den endlosen Reihen der Kerzenflammen lösen zu können, und sagte: «Das kann nicht gutgehen.»
    Ein schlitzohrig aussehender Kerl mit einem Bauchladen stand plötzlich vor ihm. Er hatte einen runden, steifen Hut auf, und seine Wangen waren so ausgehöhlt, daß sie nahezu wie Löcher erschienen. In dem Bauchladen befanden sich etliche Stapel geschlossener Couverts.
    «Das Glück läuft Ihnen nach, Herr Feuerwehrhauptmann!» sagte der Kerl mit schiefem Lächeln, «weisen Sie es nicht von sich! Lassen Sie sich die einmalige Gelegenheit nicht entgehen, sie kommt nicht wieder! Ergreifen Sie Ihre Chance!»
    «Das Glück?» fragte der Feuerwehrmann, «was meinen Sie damit?»
    Der Kerl sah ihn aus fischigen Augen an, seine Hände fuhren nervös über die Couverts. «Es kostet Sie nichts. Es ist alles umsonst. Greifen Sie zu!»
    «Umsonst?» Der Feuerwehrmann schüttelte den Kopf. «Hören Sie, ich fürchte, ich bin nicht reich genug, um mir etwas leisten zu können, das nichts kostet.»
    Der Ganove kicherte. «Richtig, die Geheimnisse des wahren Profits erscheinen oft paradox. Aber vertrauen Sie mir, Herr, und greifen Sie zu! Ich verspreche Ihnen, Sie werden bald so viel Geld haben, daß Sie sich's leisten können, akzeptiert zu haben!»
    «Was haben Sie denn da?»
    Der Halunke verzog sein Gesicht von neuem zu einem Lächeln. «Mein Herr, ich biete Ihnen hier die letzten Aktien der Bahnhofskathedrale an. Wenn Sie sie nehmen -unentgeltlich, wie gesagt-, haben auch Sie Ihren sicheren Anteil an der Wunderbaren Geldvermehrung.»
    «Nein, danke», antwortete der Feuerwehrmann, «ich möchte keinen Anteil daran haben. Ich bin nur auf der Durchreise hier. Ich möchte sobald wie möglich Weiterreisen.»
    «Das wollten alle», sagte der Kerl, «aber dann haben sie sich's anders überlegt. Sie sehen ja, wieviele es sind, die ihren Vorteil wahrzunehmen verstehen, und es werden immer noch mehr. So viele gescheite Leute können sich doch wohl nicht irren - oder halten Sie sich selbst für so viel klüger?»
    «Außerdem», fuhr der Feuerwehrmann unbeirrt fort, «wird das hier sowieso nicht lang dauern. Es wird bald ein schlimmes Ende nehmen.»
    «Da irren Sie sich!» rief der andere, «die Wunderbare Geldvermehrung wird immer weitergehen. Sie hört niemals auf. Und solang sie nicht aufhört, will niemand abreisen. Und solang niemand abreisen will, gehen keine Züge. Alles wird bleiben, wie es ist! Wollen Sie nicht doch ein paar Aktien? Wenigstens zwei oder drei?»
    «Nein!» schrie ihn der Feuerwehrmann an.
    «Schon gut, schon gut!» Der Ganove hob beschwichtigend die Hände. «Aber beschweren Sie sich später nicht bei mir! Ich habe es Ihnen gesagt.»
    Er lüpfte den Hut und verschwand eilig im Gedränge.
    «Zehntausendsiebenhundertneun...», brüllte der Lautsprecher «zehntausendsiebenhundertacht ... zehntausendsiebenhundertundsieben ...»
    Die Orgelmusik setzte wieder ein, diesmal gedämpft. Die Melodie klang nach einem alten Choral, doch war nur eine einzige Frauenstimme zu hören. Sie schwebte warm und stark durch den riesigen Raum. Niemand achtete darauf, nur der Feuerwehrmann blickte erstaunt zu der Empore hinauf, wo sie herkam. Er erkannte die junge Frau im schwarzen Mönchsgewand, die dort oben am Geländer stand und sang.
    «Eine Künstlerin!» flüsterte er, «eine wahre Künstlerin! Das hätte ich
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