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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel
Autoren: Michael Ende
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vogelscheuchenartigen Figuren drängte sich zwischen sie und trennte sie. Als die junge Frau sich wieder zu ihm durchgekämpft hatte, sagte sie hastig: «Wir werden niemals ankommen. Keiner hier. Das wissen Sie so gut wie ich, nicht wahr?»
    «Was soll ich wissen?» fragte er und hob die schwere Reisetasche auf die andere Schulter, «ich weiß gar nichts.»
    «Daß keine Züge ankommen und keine abfahren. Alles Lüge!»
    «Unsinn!» gab er zurück, «ich bin vor kurzem erst angekommen und habe nicht die Absicht, hier zu bleiben. Ich habe hier nichts zu suchen.»
    Sie ließ ein kleines, unfrohes Lachen hören. «Wirklich? Das wird sich zeigen. Wohin wollen Sie denn reisen?»
    «Zu einem Fest ...» sagte er unsicher, «einer Parade oder sowas... ich soll eine Auszeichnung bekommen... glaube ich.» Ein wenig ärgerlich schloß er: «Verzeihen Sie, aber das geht Sie eigentlich nichts an.»
    Beide wurden sie von Bettelvolk hin und her gestoßen, und die junge Frau klammerte sich an seinem Arm fest.
    «Niemand wird ankommen!» schrie sie ihm ins Ohr, «niemand! Niemand!»
    Sie mußten einem eisernen Karren mit quietschenden Rädern ausweichen, den ein riesiger Lumpenkerl mit kahlem, pustelbedecktem Kopf auf sie zu schob. Auf dem Karren lag ein himmelblauer Kindersarg. Der Deckel stand halb offen, der Sarg quoll von Geldscheinen über. Der Feuerwehrmann starrte darauf hin und wischte sich mit der freien Hand den Schweiß von der Stirn, der ihm plötzlich ausbrach. Er ging hastig weiter und drängte nun seinerseits eine Gruppe von Hungerleidern grob auseinander.
    Er und die junge Frau hatten jetzt fast den großen Torbogen erreicht, der den Eingang in die Schalterhalle bildete. Die Orgelmusik war hier so mächtig, daß die Verständigung schwierig wurde. Als sie einen Moment abbrach, sagte er: «Wissen Sie was? Ich höre den Wecker in Ihrer Reisetasche ticken.»
    Sie wurde noch eine Spur bleicher.
    «Das ist kein Wecker», antwortete sie mit spröder Stimme.
    «Zwölftausendneunhundertdrei …», dröhnte der Lautsprecher, «zwölftausendneunhundertzwei ... zwölftausendneunhunderteins ...»
    Als sie sich gegen einen Menschenstrom in die große Schalterhalle durchgewühlt hatten, setzte er die Reisetasche ab. Sie standen gegen einen Pfeiler des Torbogens gedrängt nebeneinander.
    Die Schalterhalle war riesig und verlor sich nach oben in der Dunkelheit. Auf der linken Seite lag eine Art Apsis, rechts war auf halber Höhe ein Zwischengeschoß eingezogen, auf dem groß wie ein Gebirge die Orgel aufragte. Hoch in der Apsis befand sich anstelle der Rosette eine große Uhr, deren Zifferblatt von hinten erleuchtet war, doch fehlten die Zeiger. Darunter, auf erhöhter Ebene, stand der Altar, in dessen Mitte sich das Tabernakel erhob. Es hatte die Gestalt eines mächtigen Tresors mit fünf Nummernschlössern auf der Tür, die als umgekehrtes Pentagramm angeordnet waren. Nicht nur der Altar und das Tabernakel, sondern jeder Vorsprung, jede Balustrade, jede Stelle, die es nur irgend zuließ, war mit flackernden Kerzen beklebt. Überall hatte das rinnende Wachs erstarrte Kaskaden, Tropfenbärte und Zapfen gebildet. Hunderte von verschieden hohen Leitern lehnten rings an den Wänden. Das Gedränge der Elenden war in dieser Halle eher noch fürchterlicher als draußen bei den Gleisen. Die Massen bildeten regelrechte Strudel und Ströme, die gegeneinander brandeten. Die Luft war heiß wie in einem Backofen, Rauch- und Staubschwaden zogen umher, es roch nach Schweiß und Müll.
    Vor dem Altar hopsten wie in einem Tanzritual beständig einige arme Schlucker in knöchellangen, schmutziggrauen Kitteln herum, groteske Gestalten mit Traubennasen, Kröpfen, Buckeln, Hängebäuchen, beulenbedeckten Nacken, zahnlosen Mündern und verkrüppelten Gliedern. Sie hantierten mit allerlei Gerät oder machten mit den Fingern Zeichen über die Köpfe der Menge weg wie Börsenmakler. Von Zeit zu Zeit wurde der Tresor geöffnet, dann fiel eine Ladung gebündelter Geldscheine heraus. Einer der Schlemihle nahm ein solches Bündel, hielt es feierlich mit beiden Händen hoch und zeigte es der Menge. Diese sank auf die Knie, die Orgel brauste gewaltig, und ein tausendstimmiger Chor schrie: «Wunder und Geheimnis!» Die Bündel wurden an die vorderen Reihen der Elendsgestalten verteilt und der Tresor geschlossen. Das Ritual begann unverzüglich wieder von neuem. Die Empfänger schlugen sich durch die Menge, um ihren Gewinn in Sicherheit zu bringen, und die
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