Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel
Autoren: Michael Ende
Vom Netzwerk:
Lichtausbreitung ds hoch zwo gleich dx eins hoch zwo plus dx zwo hoch zwo plus dx drei hoch zwo plus dx vier hoch zwo gleich Null...»
    Er zieht sich einen Stuhl an den langen Tisch, setzt sich zwischen zwei der Erben, stützt den Kopf auf und rechnet weiter.
    «Da diese Formel einen realen Sachverhalt ausdrückt, muß auch die Formel ds eine reale Bedeutung haben, auch dann, wenn die benachbarten Punkte des vierdimensionalen raumzeitlichen Kontinuums so liegen, daß ds verschwindet... nein, halt, nicht verschwindet... nicht verschwindet... nicht...»
    Sein Kopf sinkt langsam auf die Tischplatte, und mit der Wange auf den Formeln im Staub schläft er ruhig und mit tiefen Atemzügen wie ein Kind.

DIE BAHNHOFSKATHEDRALE STAND AUF EINER GROSSEN SCHOLLE
     
    aus schiefergrauem Gestein, die durch den leeren, dämmernden Raum dahinschwebte.
    Es gab noch andere solche Inseln, größere oder kleinere, die in verschieden großem Abstand hinzogen, manche so fern, daß man nicht mehr erkennen konnte, was auf ihnen vorging, andere gerade nahe genug, daß es möglich war, sich Zeichen zu geben. Manche hatten dieselbe Geschwindigkeit, blieben also immer gleich weit voneinander entfernt, andere fuhren langsamer oder schneller dahin, so daß sie vorauseilten oder zurückblieben, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Die meisten schienen unbewohnt oder waren jedenfalls dunkel, nur wenige waren illuminiert wie die^ auf der die Bahnhofskathedrale stand, ein babylonisches Bauwerk von verwirrenden Ausmaßen, noch lange nicht fertig, wie die vielen Gerüste erkennen ließen. Aus den filigranartig durchbrochenen Mauern strahlte und glitzerte Licht. Orgelmusik ertönte aus dem Inneren.
    Eine Lautsprecherstimme dröhnte: «Achtung, Achtung! Anschlußreisende! Der Ersatzzug aus Richtung d sigma hoch zwo wird fahrplanmäßig zum Zeitpunkt / plus dt auf Gleis et einlaufen ...»
    In der Bahnsteighalle wogten graue Menschenmassen hin und her, drängten sich in Strömen aneinander vorbei, schleppten Lasten, schrieen, gestikulierten und verkeilten sich ineinander. Da und dort hockten Gruppen auf dem Boden oder auf Bergen von notdürftig zusammengeschnürtem Gepäck, Schachteln, Kisten und Bündeln. Alle diese Leute waren in schmutzige Fetzen gekleidet, Lumpengesindel, Bettelvolk, verlaust, triefäugig, schorfig, verkommen. Aber die Körbe, Koffer und Säcke, die sie bei sich hatten, quollen über von Geldscheinen. Gepäckkarren, die mühsam zwischen ihnen durchgeschoben wurden, waren hoch mit Stapeln gebündelter Banknoten beladen.
    Am äußersten Rande eines Bahnsteigs, dort wo die Halle sich nach außen öffnete und etwa ein Dutzend Gleise in den leeren Raum hinausragte, stand ein Feuerwehrmann und blickte mit ratlosen Augen auf das Treiben. Er trug eine dunkelblaue Uniform mit blankgeputzten Messingknöpfen, den Helm mit dem ledernen Nackenschutz auf dem Kopf, das blinkende, vernickelte Beil im Halfter am Gürtel. Ein dicker schwarzer Schnauzbart zierte seine Oberlippe.
    Ganz in seiner Nähe mühte sich ein schmächtiges junges Weib mit einer großen Reisetasche ab, die es kaum zu schleppen vermochte. Es war in eine Art Büßergewand, eine Mönchskutte aus schwerem, schwarzem Stoff gekleidet, die völlig zerschlissen war. Die Kapuze umrahmte ein bleiches, asketisch mageres Gesicht mit brennenden Augen.
    Der Feuerwehrmann näherte sich der jungen Frau.
    «Gestatten Sie?» fragte er, «kann ich Ihnen behilflich sein?»
    Sie ließ es verwundert zu, daß er ihr die Tasche aus der Hand nahm und sich auf die Schulter lud. «Wohin?»
    «Hören Sie die Orgel?» sagte sie. «Bald bin ich an der Reihe. Ich muß in die Schalterhalle.»
    Er ging voraus, stieg über einige am Boden schlafende Elendsgestalten weg, die mit den Köpfen auf Bündeln von Geldscheinen lagen.
    «Was ist das hier eigentlich?» rief er zurück, «ich meine, wie heißt die Station?»
    «Zwischenstation», antwortete sie.
    «Ah?» machte er und warf ihr einen Blick von der Seite zu, denn er war nicht sicher, ob er im Lärm richtig verstanden hatte. «Für Sie auch? Ich bin nämlich nur auf der Durchreise hier, Gott sei Dank! Ich steige hier nur um.»
    «Das glauben alle», erwiderte sie, «ich habe es auch geglaubt. Aber die Zwischenstation ist die Endstation -jedenfalls solange der Zauber hier nicht aufhört. Und er hört nicht auf. Er hört nicht auf.»
    Der Lautsprecher dröhnte: «Dreizehntausendsiebenhundertelf ... dreizehntausendsiebenhundertzehn ...»
    Eine Gruppe von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher