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Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten
Autoren: Michael Derbort
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drüben“, erklärte Anna und deutete in die entsprechende Richtung.
    Bianca folgte ihr. Anna lief immer schneller und zum Schluss rannte sie fast. Sie erreichte als Erste das Pfarrhaus und klingelte. Als Bianca zu ihr aufgeschlossen hatte, wurde die Tür bereits von Pfarrer Schuster geöffnet.
    „Ich danke Ihnen von Herzen dafür, dass Sie sich die Zeit genommen haben“, sagte der Priester zu Bianca, als er die beiden Frauen ins Wohnzimmer führte.
    Als Anna ihren Freund erblickte, ging sie sofort zu ihm und nahm ihn in die Arme. Kurt fing an zu schluchzen und weinte schließlich hemmungslos. Anna umarmte ihn tröstend.
    „Das sieht so aus, als sollte ich mich auf etwas gefasst machen“, stellte Bianca nach einer Weile fest.
    Werner nickte wortlos, Pfarrer Schuster blickte sie ernst an.
    „Sie können immer noch ablehnen“, erklärte der Pfarrer eindringlich. „Ich kann nicht von Ihnen verlangen, dass Sie sich das ansehen. Es ist ein furchtbarer Anblick.“
    „Hören Sie.“ Bianca gestikulierte ungeduldig herum. „Ich habe fast ein Jahr lang in der Pathologie gearbeitet. Ich habe mehr Grausiges gesehen, als mir lieb ist. Sie wären erstaunt, wie lange Sie achtzehnjährige Kinder in Ihren Träumen verfolgen, wenn die von den Rettungsdiensten mitsamt ihren Autos von den Bäumen abgekratzt und bei uns eingeliefert wurden.“
    „Sind Sie Ärztin?“, erkundigte sich Werner.
    „Nein, Mikrobiologin. In der Pathologie habe ich das mikrobiologische Labor geleitet. Zusammen mit dem Oberarzt der Abteilung. Danach hatte ich genug von Toten und bin in die Forschung gegangen.“
    „Sie werden sich jetzt wieder umgewöhnen müssen“, warnte Pfarrer Schuster.
    „Ich habe es bereits schon Anna gesagt. Meine berufliche Neugier überwiegt.“
    „Was wissen Sie?“
    „Nur so viel, dass angeblich über dreißig Jahre alte Leichen kaum Verwesungserscheinungen aufweisen.“
    „Nicht angeblich“, verbesserte Werner. „In der einen Leiche habe ich meinen Onkel wieder erkannt. Und ich weiß , dass er vor über dreißig Jahren gestorben ist.“
    „Ich möchte Sie bitten, absolutes Stillschweigen zu bewahren“, sagte Pfarrer Schuster. „Die Leute im Ort sind mitunter sehr abergläubisch. Wenn sich dieser Vorfall herumspricht, sind die Folgen nicht absehbar.“
    „Keine Sorge“, versprach Bianca. „Ich habe keine Lust, den Rest meines Urlaubs damit zu verbringen, Fragen der Dorfbewohner zu beantworten.“
    Der Pfarrer nickte.
    „Gehen wir“, sagte er.
    6.
Kurt blieb zusammen mit Anna im Pfarrhaus. Bianca folgte dem Priester und Werner zum ersten geöffneten Grab.
    Obwohl sie sich bereits innerlich auf den Anblick eingestellt hatte, bekam sie im ersten Augenblick dennoch einen gehörigen Schreck und zuckte zurück, als der Strahl der Taschenlampe die erste Leiche traf.
    „Ich habe Sie gewarnt“, sagte Pfarrer Schuster.
    „Ich weiß“, murmelte Bianca.
    Sie ging in die Hocke und sah sich die Leiche sehr genau an.
    „Wie lange ist dieser Mann schon tot?“, fragte sie.
    „Seit 1971“, antwortete Werner. „Also seit zweiunddreißig Jahren.“
    „Und hier gibt es nicht irgendwelche Bräuche, nach denen die Toten konserviert werden?“
    „Auf gar keinen Fall“, sagte der Pfarrer. „Die Leute mögen zwar abergläubisch sein, aber für heidnische Bräuche wären sie wiederum viel zu gottesfürchtig. Außerdem müssten wir das Problem bei den anderen Toten dann auch haben. Aber das ist der erste derartige Fall.“
    „Diese Leiche ist wirklich nicht verwest“, sagte Bianca. „Bestenfalls ansatzweise. Und sie ist noch nicht einmal vollständig dehydriert.“
    „Was?“, fragte Werner verständnislos.
    „Dehydriert“, erklärte Bianca. „Ausgetrocknet. Normalerweise verschwindet im Laufe der Zeit die Körperflüssigkeit. Das ist zwar auch hier passiert – daher unter anderem auch die auffallend eingefallenen Wangen. Aber bei weitem nicht so, wie es hätte sein sollen.“
    Bianca schwenkte den Strahl der Taschenlampe von dem Toten weg und leuchtete auf die Erde des ausgehobenen Grabes, die sich in einem großen Haufen daneben auftürmte.
    Bianca stand auf und ging zu dem Erdhaufen. Sie ließ sich erneut in die Hocke sinken und starrte sehr lange auf die Erde.
    „Stimmt etwas nicht?“, fragte Werner.
    „Nichts Konkretes“, antwortete Bianca ausweichend. „Normalerweise lebt im Erdreich so allerlei Krabbelgetier. Käfer oder Würmer. Aber hier ist nichts dergleichen. Zumindest nicht auf dem ersten
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