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Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten
Autoren: Michael Derbort
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Kann sich einer von euch erklären, wie die Grabreihen verwechselt wurden?“
    „Die Grabreihen wurden nicht verwechselt“, entgegnete Werner.
    „Keine Angst“, beruhigte der Priester. „Ich habe nicht die Absicht, euch Schuld in irgendeiner Form zuzuweisen. Aber jemand muss – arglistig oder nicht – Gräber oder Grabsteine vertauscht haben. Auch wenn ich mir jetzt noch nicht erklären kann, wie das geschehen konnte.“
    „Es ist nicht geschehen“, entgegnete Werner matt. „Kurt mag das zwar nicht zu beurteilen. Die Leute sind gestorben, bevor er auf die Welt kam, aber ich mache diese Arbeit seit nunmehr vierzig Jahren. Ich kannte zumindest den Mann, der in dem Grab lag, das Kurt ausgehoben hatte. Es ... es war ein Onkel von mir. Und ich weiß, dass er 1971 verstarb.“
    Pfarrer Schuster sah ihn lange an.
    „Werner ...“, sagte er schließlich. „Ich kenne dich jetzt wirklich lange. Ich weiß auch, dass du immer aufrichtig warst. Dennoch fällt es mir schwer zu glauben, was du gerade gesagt hast.“
    „Mir fällt es selbst nicht leicht.“ Werner stand auf und lief unruhig im Zimmer hin und her. „Aber ich weiß, was ich gesehen habe. Mein Onkel lag in diesem Grab und er ist es. Ich erkenne sein Gesicht, auch wenn es jetzt furchtbar aussieht. Aber er ist es. Ganz eindeutig.“
    Werner drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und zündete sich sofort eine neue an. Dann fuhr er fort.
    „Ich war damals auf der Beerdigung. Ich erinnere mich, wie er aufgebahrt in der Kirche lag. Ich erinnere mich an jedes Detail und ich habe weiß Gott schon viele Beerdigungen hinter mir. Ich weiß noch nicht einmal, warum ich mich genau an diese Beerdigung so gut erinnern kann. Ich hatte meinen Onkel nie gemocht. Dass ich mit dabei war, geschah nur, um nicht irgendwelches merkwürdige Gerede im Dorf zu entfachen. Aber ich erinnere mich an seinen Anzug, den er trug. Vielleicht deshalb, weil er diesen Anzug trug, als er mich als Kind einmal grün und blau schlug. Ich hatte damals Äpfel von einem seiner Bäume gepflückt. Er erwischte mich und verprügelte mich mit einem Gartenschlauch. Danach zerrte er mich zu meinem Vater. Der drosch mich dann auch noch mal windelweich. Nachts pinkelte ich Blut. Drei Tage später musste mir im Krankenhaus eine Niere entfernt werden. Fast wäre ich dabei draufgegangen. Aber dieser Anzug ... Ich werde ihn nie vergessen. Ich hätte fast gekotzt, als ich diesen Anzug wieder erkannte. - Verzeihung ...“
    „Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden“, sagte Pfarrer Schuster.
    „Aber die Narben bleiben dennoch“, entgegnete Werner.
    „Wie dem auch sei.“ Pfarrer Schuster erhob sich aus seinem Sessel. „Wir haben eine Situation, die geklärt werden muss. Bis zur nächsten Beerdigung bleiben uns zwei Tage. Vielleicht werde ich die Beisetzung um einen Tag verschieben können, aber länger nicht. Die Leichen können wir auf keinen Fall ins Beinhaus legen. Ich überlege, was ich machen soll.“
    „Die Polizei könnten wir zwar rufen“, schlug Werner vor, „aber ich bezweifle, ob die uns helfen können. Immerhin liegt ja kein Verbrechen vor. Selbst wenn vor dreißig Jahren ein Witzbold die Leichen klammheimlich konserviert hat, wird heute kaum noch jemand in der Lage sein, einen Verantwortlichen zu stellen.“
    „Anna ...“, murmelte Kurt.
    „Was hat Anna damit zu tun?“, fragte Werner verständnislos.
    Anna war Kurts große Liebe. Ihr gehörte eine kleine Pension am Rande des Dorfes.
    Bevor Kurt dazu kam, zu antworten, trat Irmhild in das Wohnzimmer ein und stellte ein Tablett mit Tee und drei Tassen auf den Tisch.
    Sie sagte keinen Ton, ließ es sich aber dennoch nicht nehmen, einen deutlich missbilligenden Blick auf den Aschenbecher zu werfen.
    Für ihre Verhältnisse war dies bereits die Form äußerster Zurückhaltung. Pfarrer Schuster musste ihr bereits gesagt haben, was geschehen war. Irmhild war schon seit Jahrzehnten das Faktotum des Pfarrhauses. Niemand, selbst Pfarrer Schuster nicht, wagte es, ihr zu widersprechen – riskierte man doch einen Rüffel zu kassieren, den niemand so schnell vergaß. Ihr Alter war schwer einzuschätzen. Sie war als junges Mädchen zur Haushälterin des Pfarrers ernannt worden und lebte seitdem hier. Pfarrer Schuster war bereits der dritte Pfarrer, dem sie unterstellt war. Ihre Stimme mit Marktschreierqualitäten sowie ihr wuchtiges Äußeres verliehen ihr bereits eine gewisse natürliche Autorität. Die zu einem strengen Knoten
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