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Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten
Autoren: Michael Derbort
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Hexen eine letzte Gnade gewährt wurde. Sie wurden erdrosselt oder geköpft, bevor man den Scheiterhaufen entzündete. Nicht hier. Hier wurden die Frauen bis zum Schluss gepiesackt. Entweder man hatte ihnen einen Fuß abgehackt, bevor man sie hier hinauf trieb oder sie wurden mit Stöcken und Peitschen so lange traktiert, bis es an der Zeit war, den Scheiterhaufen anzuzünden.“
    „Gemütliche Gegend hier“, sagte Bianca schaudernd. „Aber was hat das mit den Leichen zu tun?“
    „Ich bin noch nicht fertig“, sagte der Priester. „Im Allgemeinen war es üblich, dass die Kirche die Hexenprozesse an weltliche Gerichte weiterleitete. Man wollte sich als Kirche eben nicht mit dem Blut anderer besudeln. Hier sah der Fall etwas anders aus. Pfarrer, Richter und Ortsvorsteher waren ein und dieselbe Person. Und es ist keine Übertreibung, wenn man ihn als fanatisch bezeichnet. Gerüchten zufolge war er sogar ein heimlicher Förderer von Heinrich Institoris, dem Verfasser des Malleus Maleficarum , auch Hexenhammer genannt. Tatsächlich sind die Hexenprozesse hier bereits ab 1469 dokumentiert. Der Hexenhammer erschien indessen erst 1487. In den achtzehn Jahren bis zum Erscheinen dieses fürchterlichen Werkes wurde die Vorgehensweise bei den Hexenprozessen so weit verfeinert, bis sie dem entsprach, wie es in diesem Machwerk beschrieben wurde. Böse Zungen sagen, Berghausen war das Versuchslabor des Hexenhammers. Der Hexenwahn trieb hier besonders wilde Blüten. Bis etwa zum Jahr 1500 gab es in diesem Ort einige hundert Männer, aber nur noch drei Frauen. Alle anderen wurden früher oder später zum Scheiterhaufen geführt. Ein besonders schlimmes Detail an dieser Geschichte ist, dass alle Kinder dieser Frauen ebenfalls verbrannt wurden. Quasi prophylaktisch.“
    „Oh Mann!“, rief Bianca aus. „Kommt hier auch noch ein Happyend?“
    „Kaum.“ Pfarrer Schuster lächelte traurig. „Bitte hören Sie mir erst einmal weiter zu. 1504 kam ein Wanderer in diesen Ort. Sein Name ist niemandem bekannt. Er war ein Tagelöhner, der sich mit Feldarbeit sein Brot verdiente, ehe er weiterzog. Berghausen sollte er aber nie wieder verlassen. Nach den Aufzeichnungen war er dem weiblichen Geschlecht nicht gerade abgeneigt und daher fiel ihm sofort der Mangel an Frauen auf. Er forschte nach und zeigte sich schockiert über das Vorgehen gegen den weiblichen Teil der Dorfbevölkerung. Er beschloss, dem Spuk ein Ende zu setzen, schlich sich eines Nachts in das Schlafgemach des Pfarrers und spaltete ihm mit einem Beil den Schädel. Am folgenden Tag wurde er verhaftet und drei Tage später hingerichtet. Zu seinen Ehren ist diese Kirche hier benannt. Es ist die Kirche des Wanderers. Touristen, die über diesen Namen stolpern, bekommen gesagt, dass die Kirche erbaut wurde, um vorbeiziehenden Wanderern geistlichen Beistand zu spenden. Die Wahrheit jedoch ist, dass dieser Wanderer mit seinem Mord dem Hexenwahn ein abruptes Ende gesetzt hatte. Als der Hexenwahn in ganz Europa tobte und Millionen von Frauen das Leben kostete, wurde hier keine einzige Hexe mehr verbrannt. Die Leiche des Pfarrers wurde auf dem Kirchplatz der damaligen Kirche beigesetzt. Die Kirche brannte gegen Anfang des 18. Jahrhunderts ab. Bei den Aufräumarbeiten wurde auch die Leiche dieses Pfarrers ausgegraben. Diese Leiche liegt seither im Gewölbe unter der Kirche aufgebahrt.“
    „Ja und?“ Bianca war sich absolut nicht sicher, ob sie die Pointe noch hören wollte. Die Geschichte von Pfarrer Schuster trieb ihr eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken.
    Pfarrer Schuster stand auf.
    „Ich führe Sie jetzt in das Kirchengewölbe“, sagte er. „Aber nur wenn Sie möchten. Wenn Sie mir folgen, ist Ihr Urlaub wahrscheinlich endgültig ruiniert. Und ich muss Sie wirklich eindringlich ersuchen, das, was ich Ihnen zeige, für sich zu behalten. Reden Sie mit Ihrem Kollegen darüber, wenn er hier eintrifft, aber sagen Sie sonst zu niemandem ein Sterbenswort.“
    „Ich weiß jetzt wirklich nicht, ob ich mit Ihnen gehen möchte“, antwortete Bianca unsicher, stand aber dennoch auf.
    „Ich appelliere an Ihre wissenschaftliche Neugier“, sagte der Priester traurig lächelnd. „Das ist gemein, aber ich bin verzweifelt.“
    „Das klingt nicht gut“, sagte Bianca. „Aber ich denke, dieser Abend hat mir ohnehin schon die Nachtruhe versaut. Okay, gehen wir.“
    Pfarrer Schuster stand auf und ging zu einer Kommode. Dort entnahm er drei lichtstarke Taschenlampen und
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