Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer der Frauen

Der Sommer der Frauen

Titel: Der Sommer der Frauen
Autoren: Mia March
Vom Netzwerk:
Krankenbett liegen sah, kam sie ihr wieder ein Stückchen kleiner vor. Sie hatte seit der Diagnose mindestens fünfzehn Kilo abgenommen. Außerdem hatte Lolly beinahe alle Haare verloren und trug inzwischen hübsche, bunte Wickeltücher um den Kopf. Die offensichtliche Anstrengung, die es ihre Tante kostete, sich im Bett aufzurichten, versetzte June einen schmerzhaften Stich. Lolly hatte in den letzten Tagen so wenig Kraft gehabt, dass letzten Freitag sogar der Kinoabend ausgefallen war. Vielleicht holten sie ihn diese Woche nach. June wünschte, der Kinoabend würde bis in alle Ewigkeit weitergehen, nur sie vier – fünf, mit Pearl – um den Fernseher versammelt, um sich von Meryl Streep in eine andere Welt entführen zu lassen, sich von ihr zum Lachen und zum Weinen bringen zu lassen. Zum Nachdenken. Und zum Reden. June wollte bis in alle Ewigkeit mit ihrer Familie reden.
    Sie strich die hellgelbe Tagesdecke mit den verblichenen Seesternen glatt, die einst ihrer Mutter gehört hatte. «Ich wollte mich bei dir bedanken, Tante Lolly», sagte sie. «Du warst so nett und großzügig zu den Smiths.»
    «Das sind sehr nette Menschen», antwortete Lolly.
    «Ganz reizend!» Pearl nickte zustimmend.
    «Du hast gut daran getan, June, sie für Charlie zu finden. Das war sehr mutig von dir. Manchmal verliert man etwas, aber dafür bekommt man etwas anderes, etwas ganz Wunderbares», sagte Lolly und lächelte June an.
    «So wie damals, als ich Mom und Dad verlor und dich dafür bekam», flüsterte June. Lollys Augen füllten sich mit Tränen, und June lehnte den Kopf an ihre Schulter. «Ich liebe dich, Tante Lolly!»
    «Ich dich auch, Junikäferchen», flüsterte Lolly, und dann fielen ihr die Augen zu.
    June gab ihrer Tante einen Kuss auf die Wange und warf Pearl einen Luftkuss zu. Sowie sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, brach sie in Tränen aus. Sie versuchte, sich zusammenzureißen.
    Ihre Tante starb.
    Aus dem Aufenthaltsraum drang Charlies aufgeregte Stimme hinaus auf den Flur. June wischte sich die Tränen weg, nahm einen tiefen Atemzug und ging hinein.
    «Du hast schon wieder gewonnen!», sagte Isabel, als Charlie stolz auf seine vier roten Plättchen zeigte. «Du bist nicht zu schlagen.»
    «Kannst es ja morgen Abend noch mal versuchen!» Charlie strahlte.
    «Zeit fürs Bett, mein Liebchen», sagte June.
    Nach dem obligatorischen «Mann, kann ich nicht noch eine halbe Stunde aufbleiben?» umarmte er Isabel und ging Kat suchen, die mit Oliver in der Küche saß und offensichtlich in ein ziemlich ernstes Gespräch vertieft war, um ihr ihren Gutenachtkuss zu geben. Als Nächstes war Lolly mit einem Kuss auf die Wange dran und dann Pearl mit einer Umarmung. Die letzte Umarmung war für Happy, der ihm zum Dank das Gesicht abschleckte.
    «Ich mag meine neuen Großeltern wirklich sehr, sehr, sehr!», sagte Charlie zu June, als sie die Treppe nach oben in sein Zimmer gingen. Es war beinahe acht. Zeit für eine kurze Gutenachtgeschichte und dann schnell das Licht aus. Es war ein langer, wunderbarer Tag für einen kleinen Jungen gewesen.
    Charlie zog sich den Schlafanzug an, putzte sich die Zähne und schlüpfte dann in Windeseile unter die Bettdecke. June setzte sich neben ihn und griff nach dem Buch. Sie lasen gerade
Wilbur und Charlotte
. Gestern Abend hatten ihm seine Großeltern vorgelesen, jeder ein Kapitel. Der Anblick, wie die beiden an Charlies Bett saßen, mit seligen Gesichtern, als hätten sie das Geschenk ihres Lebens bekommen, hatte June zwischenzeitlich so überwältigt, dass sie kurz aus dem Zimmer gehen musste.
    «Mom, kannst du mir lieber eine Geschichte erzählen? Ich möchte die Geschichte hören, wie ihr euch kennengelernt habt, du und Daddy, und warum ihr euch gleich so gemocht habt.»
    «O ja, das ist eine meiner Lieblingsgeschichten», sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die seidigen, dunklen Haare.
    Als June auf Zehnspitzen aus dem Zimmer schlich und sachte die Tür hinter sich schloss, kamen ihr Lollys Worte wieder in den Sinn:
Manchmal verliert man etwas, aber dafür bekommt man etwas anderes, etwas ganz Wunderbares
.
    Sie hatte so viele wunderbare Dinge bekommen. Sie hatte ihre Eltern verloren und Lolly bekommen. Sie hatte ihre große Liebe verloren und Charlie bekommen. Sie hatte ihren Job und ihre Wohnung verloren und dafür die Pension zurückbekommen – und ihre Familie. Sie hatte ihren Traum verloren und Charlies Großeltern bekommen.
    Sie hatte die Phantasie verloren, der sie sieben
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher