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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Autoren: Fabio Geda
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erhitzt, beobachte ich das Brodeln, das Sichbilden von Haut.
    Eines Morgens bin ich dort, spüre die Sonne im Gesicht und höre Schritte. Ich öffne die Augen. Es ist ein junges Mädchen.
    »Guten Tag«, sagt sie.
    Ich schirme das Gesicht mit der Hand ab. »Und wer bist du?«, frage ich.
    »Ich heiße Elena. Haben Sie zufällig ein kleines Mädchen gesehen?«
    Ich antworte nicht.
    »Es ist neun Jahre alt und meine Schwester Irene.«
    »Ich habe einen Enkel, und der ist auch neun«, sage ich.
    »Vielleicht spielen sie zusammen.«
    »Das glaube ich nicht.«
    Das Mädchen schaut sich um. Ich rutsche in den Schatten, um sie besser sehen zu können. »Wie heißt dein Enkel?«, fragt sie.
    »Zeno.«
    »Was für ein komischer Name. Ich kenne keinen, der Zeno heißt. Wieso heißt er so?«
    »Keine Ahnung.«
    »Warum weißt du das nicht?«
    »Weil ich nie Gelegenheit hatte, das zu fragen.«
    »Warum nicht?«
    Ich antworte nicht.
    »Wenn du meine Schwester siehst, richtest du ihr dann bitte aus, dass ich sie suche? Sie ist ungefähr so groß und hat ein altes abgetragenes Kleid an, das unserer Großmutter gehört hat.«
    »Wenn ich sie sehe, richte ich es ihr aus.«
    An diesem Abend kann ich nicht einschlafen, ich wälze mich hin und her, gehe hinunter, um Wasser zu trinken, und schenke mir einen halben Fingerbreit Salbeilikör ein. Vor dem fast kalten Ofen nehme ich Agatas Briefe und drehe sie hin und her: Es sind neun, in neun Jahren. Ich habe ihr genauso viele geschrieben. Die Entwürfe zu diesen Briefen bewahre ich auf. Ich suche nach der richtigen Position, von der aus ich Zenos Fotos im Mondlicht betrachten kann: Ich habe neun, einen pro Brief.
    In Ioles Keller habe ich einen alten Plattenspieler und ein paar Jazz- und Klassikplatten gefunden. Ich lege eine von John Coltrane auf.
    Ich greife zu Papier und Stift, wähle die Worte mit Bedacht.
    Liebe Agata, ich wüsste gern, warum ihr euren Sohn Zeno genannt habt. Heute hat mich ein nettes Mädchen namens Elena danach gefragt. Wenn ich sie das nächste Mal sehe, würde ich ihr die Frage gerne beantworten.
    Ich bringe sechs dicht beschriebene Seiten zustande, lese sie immer wieder durch und schreibe sie noch mal ab. Als ich sie in den Umschlag stecke, ist es fast schon Morgen. Ich gehe wieder ins Bett, ohne den Plattenspieler auszuschalten.
    In den nächsten Tagen kommt mich Elena erneut besuchen.
    *
    Es gibt viele Arten, sich das Leben zu nehmen, aber fast immer haben sie zur Folge, dass am Ende ein Verwandter oder Freund den Leichnam aufhebt oder von einem Seil befreit. Dann ist da noch der Gasgestank, das Problem der Bestattung. All das gefällt mir nicht. Ich möchte niemanden mit so etwas belasten, denn das ist einfach nicht fair. Ich beschließe, dass der See mein Grab sein soll. Ich kaufe zwei Metallketten mit großen, dicken Gliedern. Wenn es so weit ist, besorge ich mir zwei Gewichte zum Einhängen. Ich werde zu dem Haus rudern, das mich und meine Familie beschützt hat, als ich noch ein Kind war, und mich hinabsinken lassen. Dort werde ich für immer in Sicherheit sein, und niemand muss sich um etwas kümmern.
    Ich habe keine Eile. In die Ketten graviere ich langsam Schma Jisrael adonai elohejnu adonai echad ein. Nicht aus religiösen Gründen, sondern in Gedenken an meinen Vater. Er hat die Tür aufgestoßen, meinen Bruder mit sich fortgerissen, und jetzt bin ich an der Reihe. Aber ich gestehe es mir zu, die Sache langsam angehen zu lassen.
    Im Jahr darauf kommt mich Elena wieder besuchen, und in dem darauf auch. Ich sehe sie heranwachsen. Sie verfolgt, wie ich das Gebet in die Kette eingraviere.
    Eines Tages fragt sie: »Was machst du da?«
    »Nichts.«
    »Das ist aber eine anstrengende Art, nichts zu tun.«
    »Kinder finden alles im Nichts, Erwachsene dagegen in allem nichts.« Dann drehe ich mich um und zwinkere ihr zu: Leopardi. Aus dem Zibaldone.«
    »Und wer bist du?«
    »In diesem Fall ein Kind, würde ich sagen.« Ich lache nur selten. Oft, wenn sie da ist. Ich betrete das Haus, hole Milch, Himbeeren, Mürbteigkekse. Wir machen gemeinsam ein Picknick auf der Wiese vor dem Haus. Sie ist aufgeschossen, trägt nur einen einzigen Holzohrring. Auch in ihn ist etwas eingraviert, wenn auch kein Gebet.
    »Das sind Stammeszeichen«, sagt sie.
    »Von welchem Stamm?«
    »Weiß ich doch nicht!«
    Sie erzählt mir von der Schule, erklärt mir, warum sie Fechten gewählt hat, während sich alle ihre Freundinnen für Volleyball angemeldet haben. Sie erzählt mir von
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