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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Autoren: Fabio Geda
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verzeiht.« Bei diesen Worten beschrieb er mit beiden Zeigefingern einen riesigen Kreis. »Und bei Signora Puglisi werdet ihr euch auch entschuldigen.«
    Nachdem sie weg waren, blieb ich fassungslos sitzen. Ich war zu Unrecht beschuldigt worden, doch mir fehlte die Kraft, mich zu wehren: An diesem Tag war niemand außer mir am Caddusu gewesen – weder Michele noch Salvo. Weder Alfio, der Adoptivsohn des Apothekers, noch Marinella. Ich war dort mindestens zwei Stunden lang die Dünen runtergebrettert. Ich war sogar gestürzt. Der Beweis dafür war eine gezackte Schürfwunde an der Wade. Aber Blut ist stumm: Es konnte schlecht auf den Stein zeigen, der mir die Schramme beigebracht hatte – ein aus der Einfriedungsmauer ragender Tuffsplitter.
    Mein Vater hatte die Carabinieri und den Pfarrer barfuß, in kurzen Hosen und Gummihandschuhen hinausbegleitet (er nahm nämlich gerade Fisch aus). Worte wie Kummer, Strafe, Schuld standen im Raum und überdeckten den Makrelengeruch. Kaum war mein Vater zurück, hatte sich meine Mutter auf die Sofalehne sinken lassen, und beide hatten im Chor gesagt: »Und?«
    Ich hatte geschwiegen.
    »Was hast du dazu zu sagen?«
    Ich blieb stumm.
    »Na ganz toll! Aber vielleicht ist es in deinem Fall tatsächlich besser, du schweigst.«
    Sie hatten mir befohlen, auf mein Zimmer zu gehen. Radio, Fernsehen und X-Men waren tabu. Ich dagegen war sprachlos über so viel Ungerechtigkeit und fühlte mich zutiefst in meinem Stolz verletzt: Ich war unschuldig und wollte das nicht erst beweisen müssen, weil es so offensichtlich war. Wenigstens meine Eltern hätten das merken müssen, schließlich stand es mir förmlich ins Gesicht geschrieben. Der Tank der Airbrushpistole war voll. Von der Schule, den Hausaufgaben und den unvermeidlichen Mahlzeiten einmal abgesehen – denn wer über dem eigenen Lokal wohnt, hat keine Chance, in Hungerstreik zu treten –, hatte ich drei Tage hintereinander am Schreibtisch gesessen und die erste Comicfigur meiner fantastischen Laufbahn als Comiczeichner gezeichnet. Hätte ich damals schon gewusst, dass ich damit Erfolg haben würde, wäre ich ehrlich gesagt gleich dabeigeblieben, statt mich noch jahrelang auf dem Gymnasium herumzuquälen. Drei Tage hintereinander zeichnete ich den Unschuldigen , eine Erfindung von mir höchstpersönlich, von Zeno Montelusa, zwölf Jahre, Capo Galilea, Sizilien.
    Dreihundert Meter von der Küste entfernt stellte mein Vater das Rudern hinter einer Landzunge ein: angeblich der beste Angelplatz der gesamten Provinz, wenn nicht sogar der gesamten Region, um mit der Langleine Fische zu fangen. Wir waren nicht etwa dorthin gerudert, weil wir keinen Motor gehabt hätten, sondern weil mein Vater den Lärm nicht mochte. »Ich will hören, wie das Wasser ans Boot schlägt«, sagte er immer. Schon seit Tagen wehte der Schirokko. Er hatte das Boot so glitschig gemacht, dass man drohte ins Wasser zu fallen, ohne noch mal Luft holen zu können. Deshalb blieb ich im Rumpf hocken und präparierte die Langleine, während mein Vater im Boot stand, aufs Meer hinausschaute und darauf wartete, dass der Schirokko mir die richtigen Worte zuwehte und nicht nur Wüstensand.
    Der Vorschlag war von meiner Mutter gekommen: »Fahrt doch am Sonntagmorgen mit dem Boot hinaus, nur ihr beide. Und wer weiß? Vielleicht habt ihr auch ein bisschen Wahrheit im Gepäck, wenn ihr zurückkommt?«
    Aber von welcher Wahrheit spricht sie eigentlich?, dachte ich. Die Wahrheit erfährt, wer danach sucht. Will man dagegen bloß bestätigt bekommen, was man ohnehin zu wissen glaubt, ist das einfach scheiße. Denn dann muss ich mich entschuldigen, sagen, dass der andere recht hat. Meine Mutter glaubte mir nach wie vor nicht wirklich, das war ihr deutlich anzuhören. Aber damals konnte ich ihr nicht mal Kleinigkeiten begreiflich machen, zum Beispiel dass ich kein Pausenbrot mehr mitnehmen, sondern wie alle anderen auch in die Bar gehen wollte. Es war ja gut und schön, dass wir ein Restaurant hatten, in dem man gesund aß. Aber das war noch lange kein Grund, mir Panini mit Resten vom Vortag mitzugeben. Ich schaffte es einfach nicht, ihr das zu sagen, geschweige denn etwas zu meiner Verteidigung vorzubringen: Allein beim Gedanken daran kamen mir Wuttränen.
    Ich nahm einen der dicken braunen Würmer aus der Dose. Salvo und ich hatten sie am Tag vor der Sache mit dem Sakristeifenster am Strand von Mazara del Vallo gesammelt, der voller Neptungräser und Miesmuscheln ist. Der erste
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