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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Autoren: Fabio Geda
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Angelauswurf misslang, also holte ich die Leine wieder ein und warf sie energischer aus. Nach nicht einmal zehn Minuten hatte ich die ersten beiden kleinen Meerbrassen im Eimer. Mein Vater, der die Würmer sorgfältig am Haken befestigte, angelte vom anderen Ende des Bootes aus, damit wir uns nicht in die Quere kamen. Er ließ die Schnur nervös zucken, eine in unserer Familie weit verbreitete Technik, die er mir irgendwann beibringen würde. Er zog aber nur einen kleinen gefleckten Wolfsbarsch heraus und die eine oder andere Meerbrasse. Nach einer Stunde, in der ein Fisch nach dem anderen anbiss, tat sich nichts mehr. Auch der Schirokko hörte auf zu wehen. Bei Tagesanbruch wurden die Fische, die anbissen, immer weniger und kleiner. In diese Stille fragte mein Vater: »Warum habt ihr das getan?«
    »Was?«
    »Du weißt genau, was ich meine.«
    »Diese Frage ist vollkommen absurd!«, erwiderte ich.
    »Was ist absurd?« Er hatte die Stimme erhoben, was das Schwanken des Bootes verstärkte. »Dass ich verstehen will, warum drei Jungs, die wirklich alles haben – Freiraum, um sich auszutoben, das Vertrauen ihrer Eltern, ja vor allem das Vertrauen ihrer Eltern –, warum diese drei Jungs also beschließen, ein Kirchenfenster einzuwerfen? Ausgerechnet ein Kirchenfenster! Wozu das Ganze, Zeno? Aus Langeweile, aus Wut? Gibt es bei uns zu Hause vielleicht Probleme? Musst du etwa mit ansehen, wie deine Eltern sich prügeln, sich Gegenstände an den Kopf werfen oder beschimpfen? Denn so heißt es doch immer, wenn etwas schiefläuft: ›Da wird es zu Hause Probleme geben.‹ Aber bei uns gibt es, Scheiße noch mal, keine Probleme!«
    Es war das erste Mal, dass er mich so anschrie, ja das erste Mal, dass ich hörte, wie er das Wort Scheiße in den Mund nahm. Auf Sizilianisch tat er das öfter, aber nicht auf Italienisch. Das Boot schaukelte, ein Schaukeln, das sich auf meinen ganzen Körper übertrug. Ich schwankte zwischen Angst und Stolz, weil ich nicht wusste, wozu mein Vater noch fähig war, und weil wir eigentlich ein ganz anderes Verhältnis hatten. Wir hatten beide einen Punkt überschritten, eine Boje hinter uns gelassen und erkundeten unbekannte Gewässer.
    In diesem Moment fing ich den größten Wolfsbarsch meines Lebens.
    Während ich nicht richtig aufpasste und einer Stimme lauschte, die ich besser kannte als meine eigene, die sich aber noch nie so fremd angehört hatte, während ich über den unerwarteten Übergang in einen neuen Lebensabschnitt staunte – über die Worttaufe, die den veränderten Umgangston zwischen Vater und Sohn markierte –, während ich also Rute und Schnur hielt, spürte ich ein Ziehen. Ein heftiges Ziehen. Einen plötzlichen Ruck. Einen Moment lang hatte ich Angst, die Angel könnte ins Meer fallen. Ich umklammerte Griff und Kurbel und schrie. Keine Ahnung, was ich da schrie, ich weiß nur noch, dass er sofort neben mir stand, zog, Spiel gab, die Schnur straffte und wieder lockerließ, bis ein Wolfsbarsch, der für Weihnachten und Silvester zusammen gereicht hätte, wie ein Geschoss aus dem Meer kam, schließlich nach einem Gleitflug besiegt in unserem Boot liegen blieb und zappelte, als wollte er das Boot versenken und uns mit in die Tiefe ziehen.
    Sekundenlang stützten wir uns erschöpft vor Anstrengung und Aufregung auf den Oberschenkeln ab. Als ich mich gerade aufrichten und ihm freudig erklären wollte, dass seine Frage schon allein deshalb absurd sei, weil er in der Mehrzahl gesprochen habe – eine Mehrzahl, die suggerierte, ich hätte gemeinsame Sache mit Michele und Salvo gemacht, nur weil wir miteinander befreundet waren, womit er meine moralische Urteilsfähigkeit infrage stellte –, ja, als ich mich also gerade aufrichten und ihn umarmen wollte, sah ich, wie er in Ohnmacht fiel.
    Ich hatte noch nie zuvor gesehen, wie jemand in Ohnmacht fällt, aber es war genauso, wie man sich das vorstellt: Er verdrehte die Augen, kippte zur Seite, knallte mit der Schläfe gegen die Bordkante und blieb liegen.
    Mein Sommer – der Sommer des Jahres 1999 – hatte in jenem März begonnen, nur dass ich das damals noch nicht wusste, weil ich keinen Blick dafür hatte.
    Aber hätte ich es überhaupt wissen können? Mein Vater klagte über Blut, das die Borsten seiner Zahnbürste und die weiße Sanitärkeramik befleckte, wenn er abends ins Bad ging, um sich vom Küchengestank nach Frittüre und Fisch zu befreien. Oder gleich nach dem Frühstück, bevor er in seine bequeme Hose mit den
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