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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Autoren: Fabio Geda
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führte zu einer regelrechten Zukunftseuphorie in meiner Familie, so als hätte ich das Schlimmste bereits hinter mir. Und das genügte, dass ich die Nachhilfestunden über mich ergehen ließ: ein Minus an negativen Schulaussichten auf der einen und ein Plus an Wohlwollen in Bezug auf meine Wünsche auf der anderen Seite. So was nennt man Algebra, oder etwa nicht?
    Der Tag wollte einfach kein Ende nehmen. Gegen eins hatte meine Mutter angerufen: Es würden mehrere Untersuchungen vorgenommen, sie sei kurz rausgegangen, um sich die Beine zu vertreten und ein Eis zu essen. Als ich abends um acht den Wagen hinter der Hofmauer hörte, fiel mir wieder ein, dass ich den Tisch noch nicht gedeckt hatte. Sonntag war Ruhetag, und da musste ich im Haushalt schuften. Ich rannte die Treppe hinunter und passte meine Mutter an der Haustür ab.
    Doch die Frau, die mir entgegenkam, war kaum wiederzuerkennen: Das übliche Strahlen, das kindliche Staunen und Urvertrauen waren verschwunden. An ihre Stelle war etwas anderes getreten. Schon wie sie die Türklinke umklammerte und die Handtasche an sich presste, ließ ungeahnte Abgründe voller Eisstalaktiten und Fledermäuse erkennen.
    Ich rang verzweifelt nach Worten, vergeblich. Sie biss sich heftig auf die Unterlippe, aber weinte nicht, wahrscheinlich aus Rücksicht auf mich. Stumm nahm sie meine Hand und zog mich aufs Sofa. Dort blieben wir stocksteif sitzen, die Knie zusammengepresst. Das Zimmer weitete sich, die Wände wichen zurück: Und im Zentrum dieser Explosion befand sich meine Mutter.
    »Hör zu …«
    »Wo ist Papà?«
    »Im Krankenhaus.«
    »Geht es ihm schlecht?«
    »Ja.«
    »Wegen der Wunde?«
    »Nein, nicht wegen der Wunde.«
    »Warum dann?«
    »Es wurden einige Untersuchungen gemacht …«
    »Was denn für Untersuchungen?«
    »Papà hat Leukämie«, sagte sie, so als könnte nur dieses Wort bis zu mir vordringen, um sich dann mit anderen Informationen zu verknüpfen, damit sie dem nichts mehr hinzufügen musste. Aber ich hatte nicht die leiseste Idee, was das ist, Leukämie. Sie suchte in ihrer Handtasche erst nach Zigaretten, dann nach dem Feuerzeug und zündete sich eine an. Meine Mutter rauchte fast nie, und schon gar nicht im Haus. »Leukämie: Das ist eine ziemlich dicke Kröte, die wir da schlucken müssen. Das ist echt heftig.«
    »Wie heftig?«
    Sie stieß eine Rauchwolke zur Decke. »Er muss im Krankenhaus bleiben.«
    »Für wie lange?«
    »Wenn ich das wüsste!«
    »Warum weißt du das nicht?«
    »Weil ich es nun mal nicht weiß.«
    »Aber die Ärzte müssen das doch wissen.«
    »Nein.«
    »Wieso denn nicht?«
    »Sie wissen es nicht, Zeno.«
    »Aber es sind doch Ärzte.«
    »Weißt du noch, Zeno, als wir dieses Samentütchen auf dem Dachboden gefunden haben und nicht wussten, welche Samen es enthält?« Bei diesen Worten strich sie mir übers Haar, das länger war als sonst. Sie teilte meinen Pony über der Stirn. »Wir haben sie eingepflanzt, und es waren Ringelblumen. Wir haben die Pflanzen großgezogen, indem wir sie gegossen und vor zu viel Sonne geschützt haben. Wir wussten nicht, was am Ende dabei herauskommt.« Sie nahm einen Zug von ihrer Zigarette. Sie suchte nach den richtigen Worten, denn wenn man ein Kind großzieht, gehört das auch dazu: nicht zu lügen, aber ihm nicht die Hoffnung zu nehmen, auch wenn man sie selbst längst aufgegeben hat. »Die äußeren Umstände haben dafür gesorgt, dass die Pflanzen wachsen durften«, sagte sie. »Manchmal muss man einfach Geduld haben.«
    Und so kam es, dass die dicke Kröte , wie meine Mutter und ich Vaters Krankheit nannten, die zwar über Nacht ausgebrochen, aber nicht über Nacht entstanden war, weil mein Vater laut den Ärzten schon länger an der Blutkrankheit litt, nur dass man die Symptome anfangs gar nicht bemerkt, sondern erst, wenn man ins Krankenhaus muss, und dann ist es schon sehr spät, nicht zu spät , aber eben spät – so kam es also, dass die dicke Kröte wie eine Stichflamme einen Monat nach dem anderen verschlang und März, April, Mai, mein Schuljahr (ich wurde bloß aus Mitleid versetzt) sowie das Restaurant in Schutt und Asche legte. Meine Großeltern waren gezwungen, wieder zu arbeiten, weil mein Vater im Krankenhaus bleiben musste, wo er eine Bluttransfusion und eine Chemo nach der anderen bekam. Währenddessen wich meine Mutter ihm nicht von der Seite. Sie versuchte, mit den Ärzten zu reden, herauszufinden, was man tun, wo und wie man sich behandeln lassen kann. Ende Juni wurde
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