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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Autoren: Fabio Geda
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sie, ob sie nicht mit ihm nach Sizilien gehen wolle, um dort das Restaurant zu führen, das mein Großvater ihm irgendwann übergeben werde. Nicht weil der keine Lust mehr gehabt hätte, Gott bewahre, sondern aus Altersgründen.
    Sie willigte ein, und neun Monate später kam ich zur Welt.
    Ich.
    Tja, und heute bin ich Zeichner. Ich zeichne und schreibe, aber in erster Linie zeichne ich. Es gibt Autoren, die sich nur von ihrer Fantasie leiten lassen, aber ich gehöre nicht dazu. Ich liebe die Synergie, die entsteht, wenn aus den Worten des einen die Bilder des anderen werden. Diesem alchimistischen Verwandlungsprozess gilt meine ganze Leidenschaft. Ich lerne jemanden kennen, und wir fantasieren gemeinsam drauflos: Der andere hat Welten im Kopf und ich in den Händen, am Ende befruchten sich unsere unterschiedlichen Welten, und es entsteht eine dritte, noch bessere Welt.
    Der erste italienische Comic aus meiner Feder war Teil eines Sonderhefts von Nathan Never mit dreizehn Geschichten von dreizehn verschiedenen ausländischen Autoren. Ein befreundeter Franzose empfahl mich weiter, ich schickte dem Verlag ein paar Arbeitsproben, fuhr nach Mailand, um mich vorzustellen, und wurde genommen.
    Vor einem Jahr bekam ich eines Morgens eine Mail, und zwar an einem dieser Tage, an denen man sich fragt, ob das wirklich alles einen Sinn hat, sosehr man seine Arbeit auch liebt und sich dafür begeistert – schließlich hätte man sich als Junge fast in die Hosen gemacht vor Aufregung, eines Tages sagen zu können, Ich bin Comiczeichner. Nun, an einem dieser Tage bekam ich eine Mail mit folgendem Inhalt:
    Ciao Zeno,
    im Anhang findest du einen ersten Entwurf zu Shukran sowie ein Exposé für die ersten drei Bände. Noch bin ich nicht hundertprozentig überzeugt, aber bald hab ich’s. Ich brauche eine Figurenskizze. Wenn du die fertig hast, schicken wir alles an Jean-Louis.
    Die Mail kam von Roberto Crocci, einem der besten Comicautoren überhaupt. Shukran ist eine Comicreihe über einen Typen, den wir uns gemeinsam ausgedacht haben: Er ist eine Art Superheld, der zwar keine übernatürlichen Kräfte besitzt, aber dafür stark und intelligent ist und darüber hinaus über die notwendige Ausrüstung verfügt, Flüchtlingen beim Überwinden von Grenzen zu helfen und sie vor Menschenhändlern sowie der Abschiebung in die Heimat zu bewahren. Er rettet sie aus Seenot, führt sie aus der Wüste oder aus unwirtlichen Gebirgsregionen und hilft ihnen, nicht in Flüchtlingslagern zu landen. Was Captain America mit Nazis und KZ s gemacht hat, macht Shukran in einem zukünftigen Europa mit Frontex und Flüchtlingslagern (wir schreiben das Jahr 2050); in einem Europa, das seinen Schutz an die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen delegiert hat.
    Diese Mail kam im Februar, das weiß ich noch wie heute – wie sollte ich das auch jemals vergessen? Ich machte mich also an die Arbeit und schickte ihm meine Entwürfe sowie ein Storyboard der ersten Folge. Jean-Louis Icardi, der Verleger des französischen Verlags Dargaud, war hellauf begeistert. Der Comic erschien noch im November desselben Jahres, schon Ende des Monats musste nachgedruckt werden. Kurz vor Weihnachten standen die Leute Schlange, um sich die letzten Exemplare zu sichern. Im April erschien Shukran »nach dem Riesenerfolg zweier italienischer Autoren in Frankreich« ( Corriere della Sera vom 17. März) auch in Italien und überall auf der Welt.
    Ich kann es immer noch kaum fassen.
    Nachts wache ich auf und mache Licht im Atelier. Der Schreibtisch liegt unter den vielen Zeichnungen von Shukran begraben, die gelb gestrichenen Wände sind von Hunderten von Fotos bedeckt. Dazu zwei an mich und Roberto gerichtete Drohbriefe. Darin steht, dass wir das noch bitter bereuen werden blablabla – Hakenkreuze, das volle Programm. Ich habe sie ans Fenster gehängt. Wenn ich müde bin oder keine Lust mehr habe, schaue ich sie an: Ein kurzer Blick genügt, und ich mache mich wieder an die Arbeit.
    Das bin ich heute.
    Im Frühling 1999 aber, als der seltsamste Sommer meines Lebens seinen Lauf nahm, zeichnete ich noch keinen Shukran , obwohl ich schon damals gern zeichnete. Damals bekam ich noch keine Drohbriefe von Rechtsextremen und reiste auch nicht um die Welt, um das größte Comicphänomen seit Captain America zu bewerben. Damals war ich zwölf Jahre alt, und während die Sonne in ihrer ganzen Pracht über dem Mittelmeer aufging, versuchte ich, den Bootsmotor
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