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Der Sohn meines Feindes

Der Sohn meines Feindes

Titel: Der Sohn meines Feindes
Autoren: France Carol
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dieser zu viel Alkohol konsumiert hatte. In seiner kindlichen Vorstellung war seine zukünftige Stiefmutter eine liebevolle Frau, die sich freute, einen zweiten Sohn zu bekommen. Von seinem Stiefbruder erhoffte er sich, dass dieser schon lange auf einen Spielkameraden wartete.
    Alles war aber ganz anders gekommen. Die Stiefmutter war ebenfalls eine Säuferin und hatte noch nicht einmal Interesse an ihrem leiblichen Sohn. Auch Tomek entsprach mitnichten seinen Wünschen, denn er war verschlossen und unzugänglich gewesen. Trotzdem war er für Luca das einzige Familienmitglied, zu dem er aufschauen konnte. Anfangs hielt Tomek Luca auf Abstand, aber nach und nach liess er ihn näher an sich heran. Er nahm ihn manchmal mit zum Fussballplatz, wo er mit seinen Freunden herumhing, oder schenkte ihm einen Schokoriegel, gekauft von dem Geld, dass er seiner Mutter aus der Geldbörse geklaut hatte. Tomek sorgte auch immer dafür, dass überhaupt etwas Essbares im Hause war, denn ihre Eltern ernährten sich hauptsächlich vom Alkohol.
    Am dankbarsten aber war Luka seinem Stiefbruder - darüber musste er gar nicht lange nachdenken – dass er immer da gewesen war, wenn ihre Eltern mal wieder stritten, um ihn aus der Gefahrenzone zu holen. Oft nahm er ihn mit in sein Zimmer und liess ihn in seinem Bett einschlafen, um ihn dann später, wenn Ruhe eingekehrt war, wieder in sein eigenes Bett zu tragen. Ein paarmal liess er ihn auch bei sich schlafen, und Luca konnte sich noch genau daran erinnern, wie sicher und geborgen er sich dann gefühlt hatte. Obwohl Tomek damals körperlich noch weit davon entfernt gewesen war, dieser muskulöse Mann von heute zu sein, schaffte er es Luca die Gewissheit zu vermitteln, dass ihm bei Tomek nichts geschehen konnte.
    Für Luca war Tomek also irgendwie der Held seiner Kindertage, und nun hatte ausgerechnet dieser ihm mitten ins Gesicht gesagt, dass er nichts mit ihm zu tun haben wollte. Er begriff das einfach nicht. Es liess ihm keine Ruhe. Er wollte von Tomek wissen, was dieser ihm konkret vorwarf, und er würde solange diesen Sturkopf bearbeiten bis er ihm sagte, was Sache war.
    ***
    Wütend stürmte Tomek ins Wohnzimmer und kramte in einer Schublade, bis er die Zigaretten gefunden hatte.
    „Oha!“, hörte er hinter sich Erwin sagen und drehte sich um.
    „Was heisst hier ‚Oha‘?“, fragte Tomek unwirsch.
    Erwin lachte leise auf. „Oha, Tomek greift nach seinen Kippen!“
    „Na und, ich rauche halt gelegentlich. Das weisst du doch“, sagte Tomek und wollte sich an Erwin vorbeidrängen.
    „Stimmt. Du rauchst entweder nach einem guten Fick oder wenn du dich ärgerst“, grinste Erwin, „Da ich aber keine eindeutigen Geräusche aus der Küche gehört habe, tippe ich auf Letzteres.“
    „Ach, halt doch die Klappe“, sagte Tomek genervt und verliess die Wohnung, um im Hinterhof eine Zigarette zu rauchen.
    Erwin hatte natürlich Recht. Er war wütend! Wütend auf die Scheisssituation, in der er sich mit Lucas Vormundschaft befand. Wütend auf Luca, weil der ihm mit seiner Scheissfragerei zu nahe gekommen war. Aber am allermeisten war er wütend auf sich selbst, weil er, als Luca ihm mitfühlend die Hand auf den Arm gelegt hatte, drauf und dran gewesen war, sich von dem Kleinen doch tatsächlich in den Arm nehmen zu lassen. Hallo! Er hasste ihn doch, oder etwa nicht?
    Dieser verdammte Luca, mit diesen verdammt schönen, melancholischen Augen. Das hatte er schon früher mit ihm gemacht! Wenn ihre Eltern mal wieder besoffen stritten, hatte er ihn mit diesen traurigen Augen angeblickt, und schon war er weich geworden und hatte sofort den Drang verspürt, den Kleinen zu beschützen. Und nun, zehn Jahre später, war er wieder in derselben Lage. Ein Blick von Luca, und er wurde zum ‚Softie‘.
    Aber weich wollte er nie mehr sein. Er war hart! Hatte hart werden müssen. Schliesslich hatte er über drei Jahre auf der Strasse gelebt, und sich seinen Lebensunterhalt auf dem Kinderstrich verdient. Er hatte vieles erlebt, aber nichts hatte ihn gebrochen. Keine Erniedrigung, keine Gewalt, keine Ausbeutung. Alles hatte ihn stärker und härter gemacht. Er würde sich ganz sicher nicht von Luca etwas anderes einreden lassen.
    Und doch, dieser Geruch! Ganz weit hinten, beinahe unbemerkt, hatte er Lucas eigenen Geruch wahrgenommen, was Erinnerungen hervorlockte, die er längst vergessen geglaubt hatte. Plötzlich war es ihm wieder präsent wie es gewesen war, den zitternden Körper des kleinen Luca im Arm
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