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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition)
Autoren: Jessica Durlacher
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Deutschland gekauft. Das war natürlich irre.«
    Wagner. Wir sahen uns an. Wir wussten, was der andere dachte.
    »Federmann ist auch nicht wiedergekommen, oder?«, sagte ich ablenkend.
    »Nein«, sagte Mitch, und es klang erleichtert. »Das hat Opa alles ausfindig gemacht. Federmann ist in Bergen-Belsen umgekommen, irgendwann gegen Ende des Krieges, genau wie Opas Vater.«
    Ich sagte: »Ich habe auch ein paar Dinge recherchiert.«
    »Was denn?«
    Ich erzählte Mitch von den Fakten, die ich beim NIOD über Laurens Raaijmakers gefunden hatte. Ein niederländischer Polizist, der mit den Nazis kollaborierte. Und der zum berüchtigten Judenjäger wurde. Leiter der Bezirksstelle, gar nicht weit von dort entfernt, wo meine Großeltern wohnten. Vielleicht sei er es gewesen, der Zewa geschlagen habe, sage ich.
    Jetzt starrte Mitch mich an.
    »Der Vater von…?«
    Ich eröffnete Mitch unsere Theorien. Sein Wunsch nach Absolution, sein Gefühl der Demütigung, seine zunehmende Frustriertheit, und wie das alles in Hass und Gewalt mündete.
    »Ach du Scheiße«, sagte Mitch.
    Wir starrten ins Leere, jeder in seine eigenen Gedanken versunken.
    »Und dieser Brief? Was war mit diesem Brief, Mitch?«, fragte ich dann.
    »Ach ja«, sagte Mitch. »Als Herman allein in dem Haus hockte, hat er seinem Freund Mo einen Brief geschrieben. Er war so schrecklich einsam und wollte eigentlich einen ganz anderen Brief schreiben, einen aufrichtigen Brief, aber das gelang ihm nicht, wie er mir erklärt hat. Er konnte es nicht.«
    »Und?«
    »Du wirst es lesen«, sagte Mitch kurz.
    »Okay. Aber warum, Mitch? Warum durften wir nichts davon wissen? Hat er dir das erklärt?«
    Mitchs Augenbrauen schnellten in die Höhe.
    »In Baden-Baden habe ich es gesehen, mit eigenen Augen. Opa ging an seinen Schuldgefühlen kaputt. Er hat mir mal erzählt, dass er fürchtete, all diese Schuldgefühle seien Gift. Aus einer Art Aberglauben heraus hatte er Angst, dass uns etwas zustoßen würde, wenn wir es wüssten. Er wollte stark für uns sein. Er schämte sich immer noch, glaube ich.«
    Ich konnte nichts darauf erwidern. Ich verstand das, denke ich. Es machte mich tieftraurig. Unter seiner Fürsorge waren wir sicher gewesen. Hatten wir uns sicher gefühlt.
    Mitch sagte: »Er hat wörtlich gesagt: ›Mitch, du bist mein Enkelsohn, der Einzige, dem ich dies erzähle. Die Geschichte meiner Machtlosigkeit. Versprich mir, Mitch, dass du dich niemals so von einer Situation überrumpeln lässt, wie ich mich habe überrumpeln lassen, sei niemals machtlos, wie ich machtlos war. Ich hoffe, dass du stark wirst. Dass du imstande sein wirst, die, die du lieb hast, zu beschützen. Dass du ein Kämpfer wirst.‹«
    Mitch sah jetzt mit einem Mal sehr jung aus.
    Stotternd sagte er: »Und das habe ich nie vergessen können, Mam, tut mir leid. Ich war dreizehn, als er es mir sagte, im gleichen Alter wie er damals, als das alles passierte.«
    Er sah mich hilflos an und fragte dann: »Verstehst du jetzt? Alles? Dass ich das tun muss?« Er zeigte um sich herum.
    Ich sah, dass sich Mitchs Lippen bewegten, ich sah sein hageres Gesicht, seinen kurzrasierten Marine -Kopf, seine starken, breiten Schultern. In meinem Kopf hallten noch weitere Fragen nach, aber ich stellte sie nicht. Ich kannte plötzlich die Antworten. Ich kannte alle Antworten so genau, dass ich fürchtete, daran zu ersticken.
    Und ich wollte sagen, dass es jetzt genug sei, dass er schon zur Genüge bewiesen habe, dass er nicht machtlos war, dass er schon mehr gewagt habe als irgendwer sonst. Aber ich konnte mir seine Antwort ausmalen. Er habe gerade erst angefangen, würde er sagen – sei das Böse nicht unbegrenzt, breite es sich nicht aus, wiederhole es sich nicht Tag für Tag?
    Also blieb ich stumm und schaute ihn nur an. Schaute mir jeden Zentimeter von ihm an, als könnte ich ihn, wenn ich nur alles gut in mich aufnahm, sein ganzes Gesicht, seinen Körper, alle Härchen, alles, woraus er gemacht war, als könnte ich ihn dann, in meine Liebe gegossen, beschützen, versichern. Seine Handgelenke schaute ich an, seine lieben kurzen Hände, seine Augen, in denen sich die Sorge um uns, mich, seinen Vater, seine Schwester, spiegelte. Mitch war stark, Mitch war klug, und das war, was er wollte.
    Er saß still da, fast entschuldigend, auch er schwieg, aber in seinem Blick war nichts Hartes oder Kaltes mehr. Er sah mich an, uns, muss ich sagen, denn Jacob saß inzwischen neben mir. Ich hatte gar nichts davon gemerkt.
    Zum
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