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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition)
Autoren: Jessica Durlacher
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finster darin, das Lämpchen funktionierte nicht mehr. Er quetschte sich in den Hohlraum. Im Boden, wie auch im Fußboden darunter, war ein breiter Spalt, durch den er nach unten ins Wohnzimmer gucken konnte, aber dazu musste er erst die Matte wegschieben, auf der er jetzt stand. Er hörte, dass unten die Tür aufgestoßen wurde, und er hörte Stimmen, von Niederländern, die die Arroganz besaßen, seinen Eltern und deren Untermieter in ihrem eigenen Haus Befehle zuzubrüllen.
    »Sachen packen, mitkommen! Jetzt! Los, los!«, riefen sie.
    Herman, oben im Schrank, zitterte am ganzen Leib. Möglichst geräuschlos versuchte er mit dem Fuß die Matte wegzuschieben, als er plötzlich gegen etwas stieß. Er bückte sich und schloss die Finger um einen harten, kalten Gegenstand. »Federmanns Pistole«, erzählte Mitch. »Federmann hatte sie aus Berlin mitgebracht. Hermans Vater wollte nicht, dass sie im Haus blieb, weil er das für zu gefährlich hielt. Offenbar hatte Federmann sie dann dort versteckt.«
    Herman hörte unterdessen das permanente Schreien der Polizisten und das Poltern von umfallenden Möbeln. Sie hatten es eilig, waren ungeduldig. Die Pistole in der Hand, gelang es Herman endlich die Matte wegzuschieben, ganz sachte, denn wenn sie irgendetwas hörten, wäre alles vorbei.
    »Ihn beschäftigte nur eines«, erzählte Mitch, »ob er sich trauen würde, von hier oben auf sie zu schießen. Er glaubte, dass er sie treffen könnte, wenn er durch den Spalt im Boden auf sie zielte.«
    »Schneller, schneller«, riefen die Männer und trieben Hermans Eltern an, aber die Koffer waren schwer, und es fiel etwas aus einer zusätzlichen Tasche, was sein Vater aufzuheben versuchte.
    Herman sah, wie einer seinem Vater ungeduldig und hart mit dem Gewehrlauf auf den Rücken schlug. Und als seine Mutter das Gesicht zu dem Mann erhob, der das getan hatte, um etwas zu sagen, ja ihn womöglich zu beschimpfen, stieß der ihr den Gewehrkolben gegen das Kinn. Sie fing an zu bluten.
    »Seine Mutter wurde von einem Proleten mit dem Gewehr geschlagen! Da ist Opa fast durchgedreht«, sagte Mitch. »Jetzt musste er schießen, jetzt wollte er auch, dass sich die Kugeln in ihr Hirn bohrten. Siedend vor Hass und Rachedurst stand er da in dem Schrank und war nur von einem Wunsch erfüllt: diese Eindringlinge zu erschießen, einen nach dem anderen. Aber als er es wirklich versuchte, verkrampften sich seine Finger und versagten ihm den Dienst. Er traute sich nicht. Natürlich traute er sich nicht.«
    Durch den Spalt wurde Herman Zeuge des erbärmlichen Geschehens: seine Mutter mit blutigem Gesicht, sein Vater, der sie stützte, humpelnd. Wie sie mit ihren Taschen und Koffern zur Tür hinausstolperten: ängstlich und gehetzt, seine Mutter weinend. Noch einen letzten Blick warf sie zurück.
    »Und Opa«, sagte Mitch, »hob die Hand zu einem letzten Gruß, was sie natürlich nicht sehen konnte!«
    Das war das letzte Bild von seiner Mutter, wie er sie kannte. Danach sollte Herman sie nur noch einmal wiedersehen, in Auschwitz, in einer Kolonne von Frauen, die ihren letzten Transport antraten.
    Federmann ging hinter seinen Eltern her. Als er noch einen Blick zurück und nach oben warf, war Herman sich sicher, dass er an seine Pistole dachte. Er schämte sich sehr.
    »Opa erzählte, dass sich alles in ihm zusammengezogen hat vor Scham, tiefster Scham und unendlichem Bedauern. Aber vorbei war es da noch nicht«, erzählte Mitch. »Zwei von den vier Männern gingen noch durchs Haus, öffneten Schränke, nahmen heraus, was sie gebrauchen konnten. Einer von ihnen kam auch nach oben. Den hätte Herman natürlich gern erschossen. Zumal es der Mann war, der seine Mutter geschlagen hatte. Man kann sich das gut vorstellen. Wie er hinter dieser Zwischenwand stand. Am ganzen Leib zitternd, wie unter Strom – so hat Opa es erzählt. Seine Gedanken überschlugen sich. Ohne dass er eine Lösung fand. Sein Vater würde außer sich sein, und er würde seiner Mutter nicht helfen, wenn sie ihn jetzt fanden. Auch an die Repressalien dachte er, die unschuldigen Menschen, die seinetwegen büßen und getötet werden würden. Und angenommen, er schoss daneben? Angenommen, sie nahmen ihn fest und erschossen ihn? Andererseits dachte er: Wenn ich sie jetzt einfach alle totschieße, zuerst diesen Scheißkerl mit dem Gewehr, dann den nächsten, dann noch einen und noch einen – dann würde man ihn vielleicht nicht so schnell finden. Dann könnten sie vier sich das Auto schnappen
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