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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition)
Autoren: Jessica Durlacher
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zumindest darüber im Klaren sein müssen, dass er so sehr mein Sohn, mir so nahe ist, dass er alles für mich tun würde, auch wenn ich für mich entschieden hatte, es selbst nicht zu können oder zu wollen. Mitch hat von jeher eine ungemein feine Intuition gehabt, zumal was mich betrifft, ich hätte also damit rechnen müssen. Und ihn zurückhalten müssen.
    Ich hätte vielleicht nicht mit Pistole aus dem Haus gehen dürfen, Mitch im Auto nicht so ansehen dürfen. Vielleicht hätte ich reden müssen, meinem Mann wie meinem Sohn verdeutlichen müssen, dass die Tränen, die ich nach meinem missglückten Versuch, die Pistole zu ziehen und etwas Unumkehrbares zu tun, zu verbergen versuchte, Tränen des Bedauerns waren, aber auch Tränen meiner Menschlichkeit. Auf diese Tränen hätte ich stolz sein können – wenn ich sie ihnen deutlich erklärt hätte. Ich hätte Mitch verbieten müssen zu tun, was ich nicht tun konnte.
    Und jedes Mal, wenn ich all das dachte, tat es weh, denn diese Gedanken bedeuteten im Grunde nur eines: dass Raaijmakers trotz seines Todes moralisch über uns gesiegt hatte.
    (Mitch lehnte es kategorisch ab, sich auf solche Überlegungen einzulassen. Er verbot uns buchstäblich jedes Mitempfinden. Er sei US - Marine ! Und da er schon kurz darauf wieder zu seiner Basis zurückmusste, blieb uns gar nichts anderes übrig, als uns damit abzufinden.)
    Doch alles bekam ein völlig anderes Gesicht, wenn ich Tess anschaute, den anderen Ableger meiner besten Seiten, Tess, die allmählich wieder sie selbst wurde. Oder wenn ich mir Jacob ansah, der lebte und mir näher war denn je, Jacob, der sich vorsichtig wieder mit neuen Projekten trug. Oder wenn ich Mitchs Briefe las. Mitch, der offenbar so gut trainiert war (und wurde), dass er mit Vergeltung und deren Konsequenzen umgehen konnte.
    Dann fielen Angst und Zweifel genauso plötzlich von mir ab, wie sie mich kurz zuvor überfallen und mit Fragen und Vorwürfen gequält hatten. Den gleichen Effekt hatte es, wenn ich in Santa Monica aus dem Fenster schaute und in der Ferne den Ozean sah, wenn ich die Wärme der Sonne auf der Haut fühlte und das Licht in mich aufsog, das hier tagtäglich in solcher Fülle vorhanden war. Dann empfand ich trotz allem, ja fast wider Willen, eine Ausgeglichenheit, die mir kaum erklärlich war. Gibt es das: Ausgeglichenheit zwischen Gut und Böse?
    Das hätte es gewesen sein können. Ein Ende mit ein wenig, aber nicht allzu viel Reue. Doch damit ist immer noch nicht alles, was es zu wissen gäbe, erzählt. Sagen wir, es schien zu Ende zu sein, wie Geschichten ja öfter scheinbar von der echten, tieferen Vergangenheit unabhängig sein können. Der Vergangenheit, die wir schon ein wenig vergessen haben.
    Aber nicht in unserem Fall.
    Nie in unserem Fall.
    159
     
    Als wir etwa fünf Monate in den USA wohnten, also etwa sieben Monate nach dem Tod von Raaijmakers, erhielten wir eines frühen Abends einen Anruf von Mitch.
    Ich hörte es seiner Stimme an. Sofort. Und sosehr ich auch versucht hatte, mich darauf einzustellen, nichts hätte mich dafür wappnen können, denke ich im Nachhinein.
    Afghanistan sollte es werden. Bagram. Bagram Airfield. Er habe noch einen Tag, schrie er. Das bedeutete, dass ich nicht mehr zu ihm konnte.
    Mitch war aufgewühlt, das hörte ich, und vor allem das machte mir schreckliche Angst – ich hatte mich trotz aller Zweifel wohl doch unwillkürlich von Mitchs neuer Erwachsenheit, seinem Selbstvertrauen und seiner Überzeugtheit einlullen lassen. Die Angst war wie ein Vakuum, das mich leersog, eine solche Angst habe ich, glaube ich, nie zuvor gehabt. Nicht einmal diese Männer an unserem Bett hatten so ein hohles Gefühl drohenden Unheils in mir ausgelöst.
    Im Zuge früherer Telefongespräche hatte ich zu dem Zeitpunkt übrigens schon angefangen zu verstehen, inwiefern der Glaube an einen Gott in solchen Momenten wahrscheinlich wirklich eine Hilfe sein kann – ich dagegen fand meistens keinen Weg, mich zu beruhigen. Auch Jacob (den ich immer mit verzweifeltem Winken an den Hörer rief, »komm, komm!«, und dem ich beim Telefonieren schier das Handgelenk zerquetschte) konnte mich nicht mit seinen rationalen Argumenten, wie etwa günstigen Statistiken oder abstrakten Fernzielen wie »Verteidigung unserer Freiheit« oder »Kampf für die Demokratie«, trösten. So rührend und großartig er Mitchs Entscheidung für dieses Leben auch finden mochte, im Grunde fehlten ihm, wenn es darauf ankam, genauso die Worte.
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