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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition)
Autoren: Jessica Durlacher
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Nichts half. Die gellende Panik ließ sich einfach nicht bezwingen. Ich suchte mit aller Macht nach einer Form von Vertrauen in irgendetwas, egal was. Etwas, was Sinn hatte, etwas, was größer, besser, wahrer war als der bloße Zufall mit seinen willkürlichen Wendungen. Fast alle Mütter suchten und fanden in solchen Momenten zu Gott, wie ich wusste, und ich lechzte nach so etwas – nur glaubte ich nicht.
    Wohin, oder besser gesagt, zu wem ich dann ohne Gott fand, war natürlich überhaupt keine Überraschung. Offenbar konnte selbst der Tod nichts daran ändern.
    Mein Vater war nicht Gott, und mein Vater war auch nicht mehr da, aber der Gedanke, dass er trotzdem immer auf uns aufpasste, beruhigte mich nun einmal. Ich fühlte seinen Blick, und ich hörte seine Stimme. Auch wenn sein Bild jedes Mal, wenn ich ihn genauer ansehen wollte, verschwamm, und der Ton gestört war, wenn ich hören wollte, was er mir zu sagen hatte.
    Mitchs Stimme war belegt, die Worte kamen ihm nur schwer über die Lippen. Er müsse mir etwas erzählen, sagte er, etwas, was er mir bisher nicht habe sagen können oder zu sagen gewagt habe. Wir beschlossen, unser Gespräch per Skype fortzusetzen. Ich musste ihn dabei sehen.
    Er trug ein weißes T-Shirt, sein Gesicht darüber sah jung und straff aus. Er saß in einem Computerraum, dem sogenannten Skyperoom, in dem ich ihn schon früher gesehen hatte.
    »Liebling… Was wolltest du mir sagen? Weiß ich nicht längst, dass du…?«, begann ich, weil ich dachte, er wolle endlich sein Herz über das ausschütten, was mich selbst noch tagtäglich beschäftigte.
    Aber das war es nicht. Ganz und gar nicht. Ich solle jetzt einfach mal still zuhören, sagte Mitch. Es gehe um Opa. Er wolle mir etwas erzählen, was er mir von Opa nie habe erzählen dürfen. Etwas, was nur er wisse. Aber da er nicht wisse, wo seine Reise enden werde (bei dieser unerträglichen Bemerkung blieb seine Miene ganz ungerührt), wolle er es jetzt loswerden. Das sei jetzt der geeignete Moment, einen anderen werde es vielleicht nicht geben.
    Das machte es nicht gerade leichter.
    Er werde mir etwas schicken, oder besser gesagt: Es sei etwas an mich unterwegs, sagte er.
    Ein Brief.
    »Aber wir reden doch jetzt miteinander«, wandte ich ein.
    Er schaute direkt in die Kamera, mir in die Augen, obwohl er mich natürlich nicht wirklich sehen konnte.
    »Es ist kein Brief von mir. Es ist ein Brief von Opa. Und ich kann nichts mitnehmen, was von persönlichem Wert ist«, erwiderte Mitch ein bisschen ungeduldig. »Ich werde noch mehr schicken müssen.«
    Ich sah seinem Gesicht an, dass es ihn Überwindung kostete fortzufahren.
    »Ein Brief von Opa? Was denn für ein Brief?«
    »Es ist ein alter Brief, noch aus dem Krieg.«
    Langsam ( lange Leitung, sagte mein Vater immer, wenn ich etwas nicht sofort begriff) ging mir etwas auf.
    »Du hattest also den dritten Brief?«, rief ich.
    »Ja.«
    Ich wollte natürlich wissen, was es damit auf sich hatte. Was darin stand.
    »Das wirst du dann lesen«, sagte Mitch. »Du wirst nicht viel davon verstehen, schätze ich, und deshalb rufe ich dich jetzt an. Ich will es dir erklären. Ich muss es dir erklären.«
    Er weinte nicht, aber ich sah, dass ihm die Mimik zu entgleiten drohte.
    Ich hatte mich so sehr zusammengerissen, aber wenn er schon solche Mühe hatte, das jetzt zu erzählen…
    Und dann bekam ich die Geschichte zu hören, die Teil unserer Geschichte ist. Die so sehr Teil von uns ist, dass ich nicht verstehe, warum ich sie nicht kannte. Warum ich nie davon gehört hatte.
    160
     
    Mitch war 2004 mit meinem Vater in Baden-Baden gewesen, aus Anlass eines dieser Vorträge meines Vaters. Dreizehn war Mitch damals gewesen. Sie hatten das Haus besucht, in dem Herman als Kind gewohnt hatte, hatten in der Trinkhalle nach Schwefel stinkendes Heilwasser getrunken und sich im Archiv die Briefe angeschaut, von denen Dieter von Felsenrath mir erzählt hatte.
    Drei Briefe waren das gewesen, enthalten im Archivmaterial zur Familie Leeder. Zwei davon hatte Zewa, meine Großmutter, an ihre Freundin Fietje Leeder geschrieben. Das waren die Briefe, die ich kannte, die Monica in Mitchs Zimmer gefunden hatte. Der dritte Brief war von Herman selbst, geschrieben mit dreizehn. Dieser Brief war an Mo, Fietjes Sohn, gerichtet.
    Mein Vater hatte im Archiv in Baden-Baden gestanden und die Briefe wie in Trance gelesen, erzählte Mitch. Er sei dabei gewesen, er habe es gesehen. Herman hatte Dieter von Felsenrath gebeten, die
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