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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition)
Autoren: Jessica Durlacher
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Briefe noch kurz behalten zu dürfen – er wolle mit seinem Enkel darüber reden. Felsenrath hatte angeboten, ihm Kopien zu machen. Im Hotel hatte Herman Mitch die Briefe vorgelesen und sie ihm übersetzt. Später stellte sich heraus, dass Herman auch die Originalbriefe heimlich mitgenommen hatte.
    »Opa schien auf einmal ein anderer Mensch geworden zu sein«, sagte Mitch. »Ganz alt.« Er hatte unaufhörlich geweint, während er die Briefe vorlas. Besonders schlimm war es bei den Briefen seiner Mutter an ihre Freundin Fietje gewesen. Den Brief, den er selbst als Dreizehnjähriger an seinen Freund Mo geschickt hatte, wollte er nicht vorlesen. Er gab ihn Mitch mit den Worten, dass er sich selbst einen Reim darauf machen müsse. Für ihn sei das zu schmerzlich. »Ich musste ihm versprechen, dass ich niemals mit jemandem darüber reden würde. Vor allem nicht mit euch. Er sagte, er habe es nie jemandem erzählt und werde es auch nie erzählen«, sagte Mitch.
    Es war eigenartig, meinen Sohn so über meinen Vater sprechen zu hören. Für einen Moment überkam mich das gleiche Gefühl von Leere und Verlassenheit, das ich an Hermans Sterbebett gehabt hatte: Ich blickte auf das Universum, in dem ich noch nicht (beziehungsweise nicht mehr) zu den wichtigsten Menschen in seinem Leben gehörte. Dass seine Mutter an allererster Stelle gestanden hatte, war verständlich, aber dass er meinem Sohn so viel mehr anvertraut hatte als mir, darauf war ich nicht gefasst gewesen.
    Seltsamerweise hatte Mitchs Stimme auf einmal etwas von der meines Vaters, als kommunizierte ich mittels dieses unwirklichen Skype plötzlich wieder mit meinem Vater.
    »Aber warum denn nicht, mein Gott?«, fragte ich.
    Und Mitch erzählte.
    »Im Spätjahr 1942 rückte die niederländische Polizei an, um Opa Herman, seine Eltern und ihren Untermieter Federmann abzuholen. Es hatte im Viertel schon viele Razzien gegeben, sie wussten also, dass die Gefahr immer näher rückte, und hatten sich darauf gefasst gemacht, obwohl sie immer noch hofften, dass es vielleicht doch nicht passieren würde.«
    Es war ein bewölkter Tag Mitte Oktober 1942. Sie saßen unten im Wohnzimmer. Hermans Vater und Federmann lasen ein Buch, Hermans Mutter flickte seinen Wintermantel. »Daran erinnerte sich Opa noch ganz genau«, sagte Mitch, »denn diesen Wintermantel hat er von da an immer getragen. Er selbst spielte mit seinen Zinnsoldaten. Obwohl Krieg war, war er noch sehr verspielt, hat er mir erzählt, und er dachte sich Geschichten von glorreichen Schlachten aus, in denen er ganz aufging.«
    Sie hatten im Vorhinein alles durchgesprochen. Wenn sie kamen, sollte Herman sich oben im Schlafzimmer im Schrank verstecken. Darin war hinter einer Zwischenwand ein Versteck, in das er gerade eben hineinpasste. Mit der Familie Leeder, also Fietje und ihrem Mann, war verabredet worden, dass sie Herman bei sich aufnehmen würden, wenn etwas passierte. Falls das nicht gelang, sollte Herman zu den Borns gehen, der Familie ihres Anwalts.
    »Opa hatten sie dabei nicht groß gefragt. Dass er nicht bei seinen Eltern bleiben sollte, war für ihn indiskutabel. Wenn es so weit wäre, würde er einfach mit ihnen mitgehen, dachte er.«
    Sie saßen also alle zusammen unten im Wohnzimmer, als es tatsächlich klingelte. Es war schon Abend, ein Zeitpunkt, zu dem sie eigentlich nicht mehr damit gerechnet hatten.
    In der Panik des Moments bekam Herman sofort einen Schubs von seinem Vater.
    »Los, los! Schnell ins Versteck! Und rühr dich ja nicht!«, flüsterte er.
    Hermans Mutter nahm sich noch die Zeit, ihm einen Kuss zu geben, einen merkwürdigen, aufs Haar, verwirrt und mit Tränen in den Augen. Sie sandte ihm einen Blick hinterher, in dem so viel Angst, aber auch so viel Liebe lag, dass er ihn nie mehr vergessen hat.
    Sein Vater rief den Polizisten vor der Tür zu: »Wir kommen, einen Augenblick bitte.«
    »Nein! Ich will nicht in den Schrank«, sagte Herman. »Ich will bei euch bleiben!«
    Wortlos gab sein Vater ihm einen Stoß und zischte, er solle jetzt in den Schrank und sich versteckt halten, bis alle weg seien.
    »Und dann gehst du zu den Leeders – na los, beeil dich, nach dem Krieg sehen wir uns wieder!«
    Inzwischen wurde gegen die Tür gehämmert, ja es hörte sich sogar an, als werde dagegengetreten. Nicht mehr lange, und sie würden die Tür eintreten.
    Keine Zeit mehr für Diskussionen. Wider Willen huschte Herman die Treppe hinauf, zornig, bestürzt. Er stieg in den Schrank. Es war total
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