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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers
Autoren: Richard Dübell
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Bettler«, sagte ich. »Es war ein Bettler. Einer der Gesellen bot ihm etwas zu Essen an, wenn er für ihn eine Weile das Leder walken würde. Der Geselle hatte nämlich Sehnsucht nach seinem Liebchen in der Stadt und brauchte eine Ablösung. Der Bettler setzte sich also hin und bearbeitete das Leder; da kam eine der Mägde des Kürschners in die Werkstatt, sah den Fremden und begann ihn zu beschimpfen und nach der Wache zu rufen. Der Bettler versuchte sie zum Schweigen zu bringen, doch als er ihr den Mund zuhalten wollte, schlug sie ihn mit demSteinguttopf über den Schädel, den sie bei sich trug. Er stieß sie von sich, und sie fiel mit dem Hintern ins Feuer und begann jetzt wirklich zu brüllen. Die Nachbarn stürzten herein und sahen den Bettler, dem das Blut von der Stirn lief, über die Magd gebeugt, deren Hinterteil qualmte … wie hätten sie das wohl deuten sollen?«
    »Meine Güte«, sagte Rechberg. »Das ist ihm zum Verhängnis geworden?«
    »Nein, das noch nicht. Der arme Teufel gab Fersengeld. Auf die Straße hinaus konnte er nicht, da standen die Nachbarn. Da stürzte er die Treppe hinauf ins Obergeschoss, platzte blindlings durch die nächste Tür und erwischte die Weiberschlafkammer, wo die Frau des Handwerkers gerade ein Kleid anprobierte, um es zu ändern. Die Alte schrie sofort: »Vergewaltigung!« und ließ das Kleid fallen, um im Hemd auf den Bettler loszugehen und ihn mit der Elle zu verdreschen. Er versuchte zum Fenster rauszuspringen. Die Alte ließ nicht ab von ihm, und …«
    »… da hat er die Tochter gepackt und auf sie eingeschlagen.«
    Ich sah Friedrich von Rechberg an. »Nein, die war gar nicht im Zimmer. Er kriegte das Fenster nicht auf und raste wieder zur Tür hinaus, wo die Nachbarn gerade die Treppe heraufkamen und die kreischende Alte verstärkten. Jetzt suchte er sein Heil auf der Flucht ins Dachgeschoss, die Nachbarn und die Kürschnermeisterin immer hinterher. Im Dachgeschoss war die Ladeluke im Giebel geöffnet, und der Bettler rannte darauf zu und …«
    »… die Tochter stellte sich ihm in den Weg, und er warf sie hinaus, und sie zerschmetterte unten in der Gasse.«
    »Wollen Sie’s nun hören oder nicht?«
    »Entschuldigung«, sagte Rechberg.
    »… alles Betteln um vergebung wird nichts nützen, wenn der Zorn des Herrn die Gottlosen richtet. dies irae , sage ich euch, dies irae …!«
    »Also, der Bettler sieht, dass eine Ladung am Galgen hängt. Er weiß nicht, wie groß sie ist oder wie sicher der Galgen, aberhinter ihm schreien sie schon nach seinem Blut. Er tut das, was er für seine einzige Überlebenschance hält – er springt ins Leere hinaus und greift nach dem Tau! Er sieht, dass eine Ladung Lederballen, auf eine Art hölzerne Palette gebunden, am Tauende baumelt … er kriegt es zu fassen …«
    »Aaaah!«, seufzte Rechberg überrascht.
    »Genau, das sagten alle anderen auch. Der Bettler hockt jetzt rittlings auf der Ladung, die weit ausschwingt, luftig und unbequem, aber fürs Erste gerettet.« Ich spähte Rechberg unter die Hutkrempe, aber er starrte mich nur mit großen Augen an und hing an meinen Lippen, fern einer weiteren Unterbrechung. »Dann rutschte der Splint, der die Seilrolle oben am Galgen fixierte, halb heraus, und nach einem Schreckmoment wurde der Bettler gemächlich abgewickelt, dem sicheren Boden entgegen.«
    Rechberg blinzelte überrascht.
    »… und wenn es auch scheint, dass die Gerechten leiden und die Sünder ihrer Strafe entgehen , so täuscht euch nicht, ihr Unchristen …!«
    »Natürlich nur, bis die Knechte oben zupackten und verhinderten, dass er gänzlich in Sicherheit nach unten sank. Wieder schwebte der arme Teufel zwischen Himmel und Hölle. Sie können sich vorstellen, welche Beschimpfungen in der Zwischenzeit auf ihn herunterprasselten, vornehmlich von der Kürschnermeistersgattin.«
    »Was ich mir nicht vorstellen kann, ist, wie die Tochter des Meisters ins Bild kommt.«
    »Sofort. Plötzlich schreit die Alte, man solle den Splint ganz herausreißen, dann würde der Hundsfott zu Tode stürzen … dem Leder könne ja nichts passieren, und um die Palette sei es sicher schade, aber sie ende für einen guten Zweck – und gesagt, getan: ein Ruck zurück, der Splint fliegt heraus, der Bettler klammert sich entsetzt an dem nutzlos gewordenen Tau fest, abwärts geht die Reise …«
    Rechberg griff unwillkürlich eine Hand voll Luft und starrte mich an.
    »Doch da trat unten die Tochter des Hauses vor die Tür, um nachzusehen,
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