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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel
Autoren: Leon Morell
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verstummen. Und dann geschah etwas, das den Bildhauer zutiefst beschämte. Sein und Raffaels Blicke kreuzten sich, und aus den tränenverschleierten Augen seines schärfsten Rivalen sprach nichts als eine tiefe Bewegtheit, die sich dem Zugriff des Verstandes lange entzogen hatte. Stumm führte Raffael seine Hände zueinander, ein dankbares Lächeln auf dem Gesicht, und verneigte sich vor seinem Konkurrenten. Niemals, das musste sich Michelangelo eingestehen, wäre er selbst zu einer solchen Geste fähig gewesen. Niemals wäre es ihm möglich, sich in dieser Weise vor dem Werk eines anderen Künstlers zu verneigen. Er war und blieb ein ganz und gar unfertiger Mensch – hässlich, eitel und hochmütig.
    Und während der Papst und sein Gefolge vor dem fertigen Fresko in Demut versanken und Michelangelo selbst auf die Unvollkommenheit seiner menschlichen Existenz zurückgeworfen wurde, nahm Aurelio den Schlüsselring, den sein Meister ihm anvertraut hatte, stieg mit pochendem Herzen die Stufen in den ersten Stock hinauf, verschaffte sich Zugang zu Michelangelos Kammer und stahl die Zeichnung der Aphrodite aus dem Geheimfach seiner Mappe.
    * * *
    Auf dem Tisch lag das Schweigen schwer wie ein Marmorquader. Als hätte der größte künstlerische Triumph Michelangelos ihnen allen die Sprache geraubt. Giovan Simone war verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Alles sprach dafür, dass er sich auf dem Weg nach Florenz befand. Beato wagte kaum, das Brot anzurühren. Aurelio schnürte das schlechte Gewissen die Kehle zu. Die Zeichnung, die er in seinem Gewand verborgen hielt, brannte sich wie Ätzkalk in seine Haut. Auch Michelangelo rührte das Brot und den Cacciocavallo nicht an, trank nur hin und wieder einen Schluck verdünnten Wein. Keiner von ihnen wagte es, einem der anderen in die Augen zu schauen.
    Irgendwann hielt Michelangelo es nicht länger aus. Wortlos schlurfte er aus der Küche, ging in seine Kammer hinauf und kehrte einen Augenblick später mit seinem Umhang und seiner Mappe zurück.
    »Kommst du?«, fragte er Aurelio. Es war eine Bitte, beinahe ein Flehen.
    Aurelio hatte andere Pläne. Pläne, von denen er nicht einmal seinem Meister erzählen konnte. Er sah zu Michelangelo auf und hoffte inständig, dass der seine Gewissensqualen als Erschöpfung missdeuten würde. Zaghaft schüttelte er den Kopf. Michelangelo wandte sich ab. Er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um die verborgene Lüge hinter der Entscheidung seines Gehilfen zu wittern. Seine Enttäuschung jedoch drang aus jedem Fingerbreit seines Körpers.
    Sie hatten sich noch nicht darüber verständigt, wie es nach dem Fresko weitergehen würde, doch der Bildhauer wusste, dass sein Gehilfe zumindest erwog, jetzt, da sein Bruder gestorben war, auf den Hof seiner Familie zurückzukehren. Als ehrbarer Mann war er dazu angehalten, die Witwe seines Bruders zu heiraten und ihr und ihrer Familie ein Auskommen zu sichern. Das gehörte sich so. Andererseits hatte sich Aurelio lange schon von seiner Vergangenheit gelöst. Wie also würde er sich entscheiden? Hatte Michelangelo erst die Statue und dann das Fresko gehen lassen müssen, um jetzt auch noch mit anzusehen, wie sich Aurelio von ihm trennte? Tiefer als jetzt, da er die Haustür öffnete und in den grimmigen Regen hinaustrat, hätte er kaum sinken können. Wie viel Verlust konnte ein Mensch ertragen, bevor er endgültig daran zerbrach? Beinahe lautlos schloss er die Tür, in der Hoffnung, wenigstens bei seiner Statue ein bisschen Zuflucht und innere Ruhe zu finden, vielleicht gar ein Quäntchen Trost und, wer weiß: Zuversicht?
    Nervös verharrte Aurelio noch einen Moment am Tisch, dann sprang er auf. Er warf sich seinen Kapuzenumhang über, klemmte das Messer mit dem kunstvoll verzierten Holzgriff – Relikt seines vorherigen Lebens – unter den Bund seiner Trikothose und eilte, die Zeichnung im Gewand verborgen, durch den Regen hinüber in den Vatikan.

LXI
    Im bleichen Licht einer im Durchgang baumelnden Laterne drängten sich die Palastwachen der Schweizergarde unter dem Bogen und ließen Aurelio im Regen stehen. Er hatte sie beim Kartenspielen unterbrochen. Neuerdings waren sie zu viert. Julius hatte sie tatsächlich verdoppeln lassen, da ließ sich mit Kartenspielen die Zeit vertreiben. Die vorderen zwei kreuzten müde ihre Hellebarden.
    »Ohne Passierschein ist nichts zu machen«, sagte der Größere gelangweilt.
    »Ich stehe der Bottega von Michelangelo Buonarroti vor und muss
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