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Der seltsame Mr Quin

Der seltsame Mr Quin

Titel: Der seltsame Mr Quin
Autoren: Agatha Christie
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durchgekommen.«
    »Wirklich?«
    »Ja. Dieses Haus gehörte damals einem Mann namens Capel.«
    »Ja, das stimmt«, sagte Evesham. »Der arme Derek Capel. Sie kannten ihn?«
    »Ja, ich kannte ihn.«
    Eveshams Verhalten veränderte sich ein wenig – kaum wahrnehmbar für einen Menschen, der sich mit dem englischen Wesen nicht genau auskennt. Bisher hatte er eine leichte Zurückhaltung gezeigt; davon konnte jetzt jedoch keine Rede mehr sein. Mr Quin hatte Derek Capel gekannt. Er war also der Freund eines Freundes, und als solcher wurde er nicht nur anerkannt, sondern aufgenommen.
    »Eine schreckliche Angelegenheit ist das«, sagte Evesham vertraulich. »Wir sprachen darüber. Eines kann ich Ihnen sagen: Es ging mir erheblich gegen den Strich, dieses Haus zu kaufen. Hätte ich etwas anderes gefunden – aber das war eben nicht möglich, verstehen Sie? Ich war an dem Abend im Hause, als er sich erschoss – Conway übrigens auch. Und ich gebe Ihnen mein Wort: Ich habe immer damit gerechnet, dass sein Geist hier umgeht.«
    »Eine äußerst unerklärliche Angelegenheit«, sagte Mr Quin langsam und nachdenklich, und als er schwieg, ähnelte er einem Schauspieler, der gerade ein wichtiges Stichwort gegeben hat.
    »Unerklärlich! Das kann man wohl sagen!«, fiel Conway ein. »Ein finsteres Geheimnis ist es – und wird es immer bleiben.«
    »Vielleicht«, sagte Mr Quin unverbindlich. »Oder was meinen Sie, Sir Richard?«
    »Schrecklich – das war es, weiß Gott! Da ist ein Mann, auf der Höhe seines Lebens stehend, vergnügt, fröhlich, ohne die geringsten Sorgen. Fünf oder sechs alte Freunde sind bei ihm zu Besuch. Bester Laune beim Abendessen, voller Pläne für die Zukunft. Und dann geht er vom Abendbrottisch weg nach oben auf sein Zimmer, holt einen Revolver aus der Schublade und erschießt sich. Warum? Das weiß kein Mensch. Und das wird auch niemand jemals erfahren!«
    »Ist diese Behauptung nicht ziemlich weit hergeholt, Sir Richard?«, fragte Mr Quin lächelnd.
    Conway starrte ihn an.
    »Was meinen Sie damit? Das verstehe ich nicht.«
    »Ein Problem muss nicht unbedingt unlösbar sein, weil es bisher nicht gelöst worden ist.«
    »Ach so! Aber lassen wir das: Wenn damals nichts herausgekommen ist, wird es heute – zehn Jahre danach – auch nicht anders sein.«
    Mr Quin schüttelte leicht den Kopf.
    »In diesem Punkt bin ich anderer Meinung. Die Geschichte beispielsweise widerlegt Ihre Behauptung. Der zeitgenössische Historiker schreibt niemals eine so wahre Geschichtsbetrachtung wie der Historiker einer späteren Generation. Es geht immer darum, die richtige Perspektive zu haben, die Dinge in ihrem Verhältnis zu sehen. Wenn Sie so wollen, handelt es sich hierbei – wie überall – um eine Frage der Relativität.«
    Alex Portal beugte sich gespannt vor; sein Gesicht zuckte. »Sie haben Recht, Mr Quin«, rief er. »Sie haben vollkommen Recht. Eine Frage erledigt sich nicht im Laufe der Zeit von selbst, sie wird nur in anderer Form neu gestellt.«
    Evesham lächelte nachsichtig.
    »Dann wollen Sie also behaupten, Mr Quin, dass wir heute wahrscheinlich genauso wie damals zur Wahrheit gelangen könnten, wenn wir etwa eine Untersuchung über Derek Capels Tod durchführen würden?«
    »Sehr wahrscheinlich sogar, Mr Evesham. Das persönliche Verhältnis ist inzwischen erheblich unwichtiger geworden, und heute werden Sie sich einer Tatsache als bloßer Tatsache erinnern, ohne zu versuchen, ihr sofort eine eigene Auslegung zu unterschieben.«
    Evesham zog zweifelnd die Stirn kraus.
    »Natürlich muss man einen Ausgangspunkt haben«, sagte Mr Quin mit ruhiger Stimme. »Der Ausgangspunkt ist gewöhnlich eine Theorie. Einer von Ihnen hat bestimmt eine Theorie. Wie ist es mit Ihnen, Sir Richard?«
    Conway runzelte nachdenklich die Stirn.
    »Ja, natürlich«, sagte er abwehrend, »wir nahmen an – wir alle nahmen natürlich an –, dass irgendwie eine Frau dahinter steckte. Gewöhnlich ist es doch eine Frau, oder es geht um Geld, nicht wahr? Und Geld konnte in diesem Fall keine Rolle spielen. Das schied von vornherein aus. Also – was blieb demnach übrig?«
    Mr Sattersway stutzte. Er hatte sich vorgebeugt, um selbst eine kleine Bemerkung beizusteuern, und dabei hatte er die Gestalt einer Frau entdeckt, die sich oben an das Geländer des Treppenabsatzes geduckt hatte. Ganz zusammengekrümmt hockte sie dort, und nur von der Stelle aus, an der er saß, war sie zu sehen. Offenbar lauschte sie mit angespannter Aufmerksamkeit
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