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Der Seelenfänger (German Edition)

Der Seelenfänger (German Edition)

Titel: Der Seelenfänger (German Edition)
Autoren: Chris Moriarty
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anderen Seite fragte er sich, ob er wirklich sein ganzes Leben damit verbringen wollte, Vorschriften über verbotene Magie zu zitieren und Menschen wie Mrs Lassky ins Gefängnis zu bringen.
    Mrs Lassky tat ihm leid. Nie hätte er gedacht, dass sie seinetwegen solche Schwierigkeiten bekommen würde. Schließlich benutzten viele Leute Zauberei, sofern die Polizei nicht zuschaute. Neue Zaubersprüche verbreiteten sich in der Hester Street ebenso rasch wie der neueste Tratsch. Zaubersprüche, die den Brotteig aufgehen ließen, und andere, die das Aufgehen der Matzen verhindern sollten. Zaubersprüche, um sich einen Mann zu angeln oder ihn wieder loszuwerden. Zaubersprüche, um Kinder zu haben, die auf die guten Ratschläge der Eltern hören, zu Hause bleiben und lernen, statt sich wie Gangster auf den Straßen herumzutreiben. Sogar Saschas Mutter benutzte Zauberei zu Hause, wenn sie sicher sein konnte, dass ihr Schwiegervater es nicht mitbekam. Was also hatte Mrs Lassky Schlimmes verbrochen?
    »Sascha«, fragte ihn sein Vater. »Fehlt dir was?«
    Erst jetzt merkte er, dass ihn alle anschauten. »Ich, äh, ich habe ein schlechtes Gewissen wegen Mrs Lassky.«
    »Mach dir um sie keine Sorgen«, beruhigte ihn seine Mutter. »Sie hat nur eine Geldbuße gezahlt.«
    »Und sie hätte viel mehr zahlen sollen«, polterte Großvater Kessler. »Diese Hinterstubenmagie ist eine öffentliche Schande –
a Schande far di Gojim
! Und fromm ist es auch nicht. Wie schon der gelehrte Rabbi Ovadia von Bertinoro sagte: ›Gott weint, wenn Frauen zaubern.‹«
    »Gott müsste nicht weinen, wenn die Männer den Frauen erlaubten, in der
Schul
die Kabbala zu studieren«, erwiderte Beka schlagfertig.
    »Widersprich deinem Großvater nicht, Fräulein!«, ermahnte Mrs Kessler sie.
    »Wie? Ich sage doch nur, was du selber schon hundert Mal gesagt hast –,
    »Und widersprich auch mir nicht!«
    Beka wartete, bis sich ihre Mutter wieder der Suppe zuwandte, dann schaute sie Sascha an und verdrehte die Augen.
    »Ich merke doch, wie du die Augen verdrehst«, sagte ihre Mutter zu Beka, ohne dass sie sich auch nur umgewandt hätte. »Heißt das, du willst am Sonntag keine
Blintzes

    »Nein, nein«, rief Beka erschrocken. »Ich nehme alles zurück! Ich stelle meine Augen wieder gerade!«
    Alle lachten. Was die Leute auch sonst noch über Ruthie Kessler redeten – und das war eine Menge –, keiner würde bezweifeln, dass sie die besten
Blintzes
westlich von Bialystok machte.
    »Komisch«, sagte Mrs Kessler, als alle noch lachten. »Ich dachte, da wäre noch genug Wasser. Wo ist denn jetzt wieder der Wassereimer?«
    Sascha stand mit einem Seufzer auf und wollte den Eimer suchen gehen. Aber seine Mutter hatte ihn bereits entdeckt. »Ich gehe schon«, sagte sie. »Ruh du dich aus. Du hast morgen einen anstrengenden Tag vor dir.«
    »Du solltest nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr allein hinaus«, wandte Mr Kessler ein. »Wenn du nicht willst, dass Sascha geht, dann mache ich das.«
    »Du schon gar nicht! Bei deinem Husten hast du draußen im Regen nichts verloren!«
    »Welcher Husten?«, fragte Saschas Vater, so als wäre schon die Behauptung, er könnte krank sein, eine schwere Beleidigung. Aber dann bewies ein Hustenanfall das Gegenteil.
    Mrs Kessler zog verächtlich die Luft durch die Nase und stapfte durch die offene Tür hinaus. Sie habe, so sprach sie halblaut, es von Russland bis zur Lower East Side geschafft, da werde sie jetzt nicht anfangen, sich vor der Dunkelheit zu fürchten.
    »Sei vorsichtig, Ruthie!«, rief ihr Mrs Lehrer nach. »Ich habe neulich abends jemanden da draußen im Dunkeln stehen sehen!«
    Keiner hörte auf sie. Mrs Lehrer war nett – aber verrückt. Nie hätte jemand geradeheraus gesagt, dass sie verrückt sei. Die Leute schüttelten nur den Kopf und sagten: »Die Arme, sie hat die Pogrome miterlebt. Was kann man da anderes erwarten, nach allem, was sie durchgemacht hat?«
    Als Sascha noch jünger gewesen war, hatte ihm das Sorgen bereitet, schließlich hatten auch seine Eltern die Pogrome überlebt. Hieß das nun, dass auch sie den Verstand verlieren könnten? Aber dann hatte er sich damit beruhigt, dass Mrs Lehrers Verrücktheit nicht ansteckend war. Im Wesentlichen bestand ihr Wahn darin, jeden Penny zu sparen, um ihren Schwestern einmal die Schiffspassage nach Amerika zu bezahlen. Ihre ganzen Ersparnisse nähte sie in einen alten Mantel ein, den sie nie auszog, denn, wie sie Sascha und Beka bei jeder Gelegenheit
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