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Der Seelenbrecher

Der Seelenbrecher

Titel: Der Seelenbrecher
Autoren: Sebastian Fitzek
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anderer Mensch. Es war keine Lüge gewesen, als er Lydia sagte, Niclas Haberland wäre gestorben. Ein Mensch dieses Namens lag für immer zerbrochen auf dem Grund seiner eigenen Seele. Auch wenn Bruck das Rätsel gelöst und ihn schon nach zwei Tagen befreit hatte, war allein diese kurze Zeit in seinem inneren Gefängnis zu lang gewesen. Dank Bruck hatte er zwar in die Realität, aber nie wieder zu sich selbst zurückgefunden.
Wirf mich weg, wenn du mich brauchst. Hol mich zurück, wenn du mich nicht mehr benötigst.
Oft hatte er sich gefragt, weshalb Sophia ihre Rätselkarten überhaupt hinterlassen hatte. Immerhin hatte sie ihren Opfern damit einen Ausweg ermöglicht, der Marie nicht offenstand. Zuerst hatte er es als ein Relikt ihrer Menschlichkeit gedeutet, später als Ausdruck einer irrationalen Hoffnung, auch seine Tochter könne vielleicht mit nur einem einzigen Wort aus dem Labyrinth ihrer Qualen herausgeführt werden. Heute, nach langen Jahren des Leidens wusste er es besser. Die Rätsel waren ein wesentlicher Teil der Strafe. Der Beweis ihrer Allmacht. Sophia hatte ihn in die Hölle geschubst und den Schlüssel von außen steckenlassen, weil es ihr gleich war, ob jemand kam, um das Verlies zu öffnen. Denn sie besaß die Macht, es jederzeit wieder zu verschließen.
… hol mich zurück …
Seit jener Nacht lebte er in der irrationalen Angst, dass Sophia nur deshalb noch nicht wiederaufgetaucht war, weil sie sich in ihm selbst versteckt hielt. Natürlich nicht körperlich, sondern im übertragenen Sinne. Wenn sie dafür gesorgt hatte, dass man ihn mit einem einzigen Wort aus seinem Todesschlaf erlösen konnte, weshalb sollte sie dann nicht daran gedacht haben, einen weiteren posthypnotischen Befehl zu plazieren, von dem er gar nichts wusste? Immerhin hatte sie ihn lange genug unter Kontrolle gehabt, um alle Informationen aus seinem Kopf zu holen, die nötig gewesen waren, um diese Patientenakte zu schreiben.
Das war der Grund, warum er bei jedem Telefonklingeln, jeder unbekannten Stimme und bei jedem Fremdwort eines Nachrichtensprechers zusammenzuckte. Weil er immer mit dem Schlimmsten rechnete, seitdem er dem Fegefeuer seiner Seele entflohen war. Und das war auch der Grund für dieses Experiment. Er musste wissen, wie stark sie wirklich war. Ob sie einen Weg gefunden hatte, sich auch noch Jahre nach ihrem Verschwinden in der Psyche eines Menschen zu verankern.
Haberland schluckte und überlegte, ob das Kratzen im Hals der Beginn einer Erkältung war. Seine Narben juckten ein wenig, was sie meist taten, wenn Schnee im Anzug war. Als Erstes meldeten sich die Risse auf der Brust, doch auch das abgestorbene Gewebe rund um die Handgelenke wurde Jahr für Jahr etwas wetterfühliger. Plötzlich spürte er etwas Nasses an seiner rechten Hand und sah nach unten.
»Da bist du ja«, begrüßte er den schwanzwedelnden Hund, der sich während seines Gesprächs mit Bachmann in den Wald verzogen hatte. Doch er blieb nie länger weg. Sein rechter Hinterlauf lahmte in letzter Zeit immer heftiger, selbst nach kurzen Spaziergängen, und auch sein rechtes Auge hatte nun einen großen Teil seiner Sehkraft eingebüßt. Die Zeiten, in denen er Tarzan mit einer Leine bändigen musste, waren schon länger vorbei.
»Jetzt müssen wir wohl beide aufpassen, dass wir nicht stolpern, was? Wir wollen heute doch noch Marie besuchen.«
Er streichelte dem alten Hund über den Kopf und drehte sich ein letztes Mal um. Die Villa stemmte sich wie ein dunkler Monolith in den grauen Winterhimmel. Die unteren Fenster waren mit Stahlplatten verrammelt, weiter oben hatte sich der letzte Makler damit zufriedengegeben, die verschlissenen Vorhänge vorzuziehen. Nicht ein einziges Licht brannte im gesamten Haus. Nur eine kleine Baulaterne wackelte über dem Eingang.
Haberland kniff die Augen zusammen. Für einen kurzen Moment glaubte er eine Bewegung hinter der ausgeblichenen Gardine ausgemacht zu haben. Dort, ganz oben im vierten Stock unter dem Dach. Doch es war schon dunkel, und außerdem hatte er lernen müssen, dass es hier auf diesem Gelände selbst am helllichten Tag schwer war, zwischen Realität und Täuschung zu unterscheiden.
Wahrscheinlich war es nur eine Einbildung. Oder eine Ratte. Vielleicht auch ein Luftzug, weil irgendwo eine Scheibe eingeworfen war. Haberland zog einen Ärmel hoch und kratzte sich am Handgelenk.
Die Meteorologen haben recht. Es wird Schnee geben, dachte er und drehte sich zu Tarzan um, der erwartungsvoll zu ihm
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