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PR2604-Die Stunde der Auguren

PR2604-Die Stunde der Auguren

Titel: PR2604-Die Stunde der Auguren
Autoren: Wim Vandemaan
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Die gestürzte Welt
     
    Absolute Finsternis.
    Schweigen.
     
    *
     
    Sie hörte Bull rufen: »Meldung! Ich will Meldung! LAOTSE!«
    Er klang fern, fremd, eine Stimme aus einem tiefen Schacht.
    Wo war er? Und wo war sie?
    Henrike Ybarri hob die Hände, führte sie sich vor die Augen, sah sie nicht. »Was ist geschehen?«
    Auch ihre Stimme klang in der Dunkelheit entstellt, ein Echo aus einer anderen Zeit. Sie räusperte sich, und selbst das Räuspern war falsch. Alles war falsch. Dort, wo ruhige Stimmen sein sollten, Erklärungen, Meldungen und Anweisungen, war nichts als auswegloses Schweigen. Und sie hörte – was für ein Wahnsinn zu diesem Zeitpunkt, an diesem Ort – das tiefe, selbstvergessene Atmen von Schläfern.
    Warum sprang die Notbeleuchtung nicht an? Warum erhellte nicht wenigstens der fahle Schein der Holoprojektionen den Raum?
    Tiefes, bewusstloses Atmen anstelle wachsamer Stimmen. Keine beruhigenden Hintergrundgeräusche arbeitender Maschinen, der Lebenserhaltungssysteme und des gelegentlichen Knisterns elektrostatischer Entladungen, dafür lag ein leises Heulen und Kreischen in der Luft, noch sehr fern zwar, aber es kam näher, und es näherte sich rasch.
    Eine Lawine von Lärm.
    Dann spürte sie eine Erschütterung, viel zu heftig, und das irritierende Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
    Ihn zu verlieren, weil er wegsackte.
    Sie sinkt, dachte Ybarri. Sie stürzt ab. Wir stehen vor einer Notlandung.
    »Was ist geschehen?«, rief Bull.
    Es tat gut, ihn zu hören. Er schrie nicht, er hatte nur die Stimme erhoben, als müsste er ihre eigene, unbeantwortete Frage ins Hörbare retten.
    Aber sie hörte – zum ersten Mal, seit sie mit Bull zusammenarbeitete, und das waren viele Jahre inzwischen – den Unterton einer Bestürzung heraus. Also auch Bully. Niemand ist immun.
    Keine Antwort. Wer sollte sie auch geben?
    Wann hatte sie dieses Gefühl zum letzten Mal erlitten? Dass alles falsch war, dass sie selbst falsch schmeckte, krank und abgeschlagen, dass sie wie ein waidwundes Tier in ihrem eigenen Körper steckte?
    Was war mit LAOTSE? Dem Zentralcomputer der Solaren Residenz? Der leistungsfähigsten autarken Biopositronik der Erde?
    LAOTSE war verstummt. Vielleicht – was seinen bionischen Teil anging – völlig geistesabwesend.
    Ein Schlag, wie aus dem Innersten, betäubte sie fast. Was noch?, dachte sie. Was kommt denn noch? Die immer gleichen Fragen setzten sich endlos fort, wie die Spiegelbilder in einem Spiegelkabinett. Keine Antwort.
    Von irgendwoher drang ein metallisches Kreischen, vermischt mit einem unmenschlichen Geheul. Wir stürzen ab, dachte sie. Die ganze Welt stürzt ab.
    Allmählich schälte sich eine Erkenntnis aus ihren verstörten Gedanken: Nein. Die Stahlorchidee kann nicht abstürzen.
    Sie ist doch nach der Evakuierung in das Stahlplastikfutteral im Residenzsee versenkt und dort verankert worden. Um 14.05 Uhr. Statt sie zu beruhigen, versetzte diese Erinnerung sie nur noch mehr in Schrecken: Wenn die Solare Residenz verankert war und von zusätzlichen Prallfeldern gesichert wird – wohin stürzen sie dann?
    Schlagartig wurde alles still. Das Gefühl, unterzugehen, verwandelte sich in das Gefühl zu schweben. Gleichzeitig spürte sie mit ihren Fußsohlen, dass sie auf dem Boden stand. Druck baute sich in ihren Ohren auf. Sie schluckte. Ganz betäubt. Alles sauer, bitter.
    Atmen, atmen!, befahl sie sich. Sie glaubte ihren Herzschlag zu hören.
    Licht sickerte in den Raum. Langsam wurde es heller. Als wäre das Licht vereist und müsste erst wieder schmelzen.
    Die Holoschirme waren entweder erloschen oder zeigten desolate, schwindelerregende Bildfolgen, die für Ybarri keinen Sinn ergaben. Sie sah etliche Medorobots in den Raum schwirren, ein aufgescheuchter Schwarm Fliegen.
    Plötzlich breitete sich der Geschmack von Blut in ihrem Mund aus. Sie presste ihre Lippen auf den Handrücken, ein roter Abdruck, nass und klebrig.
    Der Raum kippte weg.
    Sie schlug mit den Knien gegen etwas Hartes. Den Boden.
    Jemand fasste sie an den Schultern, hielt sie fest und hob sie auf. Wieso? War sie tatsächlich in die Knie gegangen? Ja. Aber wann war das geschehen? Erschrocken bemerkte sie, dass ihr einige Phasen Erinnerung fehlten. Sie fühlte sich plötzlich zerstückelt, ein Schwarm, der sich vor dem zuschnappenden Hai teilt. Sie war nichts als Sorge. Sie sehnte sich nach Schlaf, nach Abwesenheit von sich selbst.
    »Bleib bei mir. Nicht ohnmächtig werden. Du bist die Erste
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