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Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher
Autoren: Diccon Bewes
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Kinder, Laura und Luca. Sie wohnen zur Miete in einer
Vierzimmerwohnung und kommen gut mit ihren Nachbarn aus, solange diese immer
freundlich grüßen und darauf achten, Ruhe und Frieden ihrer Umgebung nicht zu
stören. Nicole arbeitet nur Teilzeit, weil ihr die Kindererziehung wichtiger
ist als ihre Karriere; stattdessen verbringt sie 53 Stunden pro Woche mit
Kochen, Putzen, Waschen und Einkaufen. Also doppelt so viel wie Stefan, der in
der Dienstleistungsbranche Vollzeit arbeitet. Er fährt zur Arbeit und bringt es
im Jahr auf vierzig Überstunden. Die Müllers sitzen 2,5 Stunden am Tag vor dem
Fernseher, finden aber immer noch genug Zeit, um die Lokalzeitung zu lesen.
    Am Wochenende machen sie Radtouren oder gehen noch
lieber wandern. Beides sind Familienvergnügungen, die nichts kosten; sie sparen
ihr Geld lieber für ihren jährlichen Urlaub in Italien, Frankreich oder
Spanien. Die Kinder gehen zum Fußballtraining, ins Ballett oder zum Reiten und
werden zu Hause wohnen, bis sie 23 sind. Von beiden werden gute Noten in der
Schule erwartet, Laura wird aber schon Sex haben, bevor sie 14 ist,
Luca mit 17.
Bei ihren Eltern hat es sich inzwischen auf zweimal pro Woche eingependelt, mit
einer durchschnittlichen Dauer von 19 Minuten einschließlich Vorspiel.
    Sie kaufen immer im Migros oder im Coop ein, der von
ihnen meistgekaufte Artikel ist Joghurt. Pro Person essen sie 250 Gramm Gemüse, 120 Gramm Kartoffeln und 160 Gramm Fleisch pro Tag, dazu trinken sie täglich 390 Milliliter Milch. Auf
die Familienfinanzen wird streng geachtet, denn Stefan und Nicole sorgen sich,
was passiert, falls er seine Arbeit verliert. Und natürlich müssen sie auch an
ihr Alter denken und den Zahnarzt bezahlen. Ebenmäßige weiße Zähne sind für die
Kinder so wichtig wie gute Schulnoten.
    Die drei Wörter, mit denen sich die Müllers selbst
beschreiben, sind: vorsichtig, freundlich und pünktlich; dass sie sich als
offen, spontan oder unordentlich sehen könnten, ist höchst unwahrscheinlich.
Und wenn sie auch nur eine Durchschnittsfamilie sind, verstehen sich die
Müllers als patriotisch und sind stolz darauf, Schweizer zu sein. Was für
Eidgenossen wiederum absolut typisch ist.
    Die nationale Identität zu definieren ist in keinem
Land leicht, aber in der Schweiz gleicht diese Aufgabe der Besteigung der
Eiger-Nordwand. Vieles, was eine Nation normalerweise zusammenschweißt, fehlt
dem Land: eine gemeinsame Sprache, eine Staatsreligion, eine Monarchie, eine
übergeordnete Ideologie, revolutionäre Ideale. Dennoch kann man der Schweiz
nicht absprechen, eine Nation zu sein, eben nur nicht im herkömmlichen Sinn.
Sie ist das vielleicht beste Beispiel für nationale Selbstbestimmung: Die
Schweizer sind eine Nation, weil sie es so wollen; sie sprechen sogar selbst
von einer »Willensnation«. Trotz ihrer unterschiedlichen Sprachen sind Lugano,
Lausanne und Luzern allesamt Schweizer Städte, einfach deshalb, weil ihre
Einwohner das so sehen. In gewisser Hinsicht wird die Schweiz dadurch so
fiktional wie Heidi; das Land existiert deshalb, weil seine Bewohner daran
glauben. Ähnlich wie das Paradies, nur dass die Schweiz gebirgiger ist und der
öffentliche Personenverkehr besser funktioniert.
    Doch eine untypische Nation zu sein heißt nicht, dass
man keine Identität hätte, es ist nur schwieriger, sie zu definieren. Und da
kommt Heidi ins Spiel. Viel zu sorglos und unkompliziert, um eine echte
Schweizerin zu sein, ist die Romanfigur tatsächlich die perfekte Verkörperung
der Schweizer Nation: liebevoll und großzügig ihrer Familie und engen Freunden
gegenüber, aber auf der Hut vor dem Fremden und den damit verbundenen
Komplikationen; bei aller Unschuld mit einem entschlossenen Herz am rechten
Fleck und ihrer Heimat über alle Maßen zugetan. Und was am meisten zählt: Das
Heidi ist – genau wie ihr Land – eine Illusion, an die die Schweizer noch immer
glauben.

✚
    Survival-Tipp
Nummer 11
    Swinglish reden und verstehen
    Anders als die offiziellen
Verlautbarungen glauben machen, gibt es in Wahrheit fünf Schweizer
Nationalsprachen. Neben Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch
existiert Swinglish, das Kind des Rendezvous von Schwyzerdütsch und Englisch.
Es mag weniger entwickelt sein als seine linguistischen Verwandten Franglais
und Spanglish, aber in seiner Heimat ist es weit verbreitet und wird
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