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Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher
Autoren: Diccon Bewes
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vom Himmel ab, an allen Seiten
zu steil, als dass Schnee liegen bleiben könnte. Sie wirken eher bedrohlich als
einladend.
    Ich besuche mit Gregor seine Eltern in Liechtenstein,
dem winzigen Fürstentum zwischen der Schweiz und Österreich, das wenig zu
bieten hat außer der Tatsache, das sechstkleinste Land der Welt zu sein. Die 35 000 Einwohner werden bis heute von einem Fürsten, der in einem Schloss wohnt,
regiert. Doch das Land hat keine eigene Währung, auch hier gilt der Schweizer
Franken. Haupterzeugnisse des Landes sind falsche Zähne und Nägel (solche, die
man mit einem Hammer in die Wand haut, nicht die aufgeklebten aus einem
Nagelstudio), und es gibt ein sehr diskretes Bankwesen. Keine Frage, es ist ein
reizendes Ausflugsziel, aber noch wichtiger für uns ist seine Nähe zu
Maienfeld. Wir leihen uns den Wagen von Gregors Eltern und fahren auf der
Panoramastraße über die Berge. Dabei durchqueren wir fast ganz Liechtenstein
(es ist wirklich ein kleines Land), bevor wir eine Grenze passieren, die nur
durch eine Flagge und ein Schild als solche kenntlich ist.
    Maienfeld ist recht klein, im Ortskern drängen sich
nur eine Handvoll hübscher Steinhäuser um eine Kirche mit Zwiebelturm. Hier ist
wahrscheinlich nie viel los, aber heute ist es besonders ruhig, denn wir haben
Ostermontag. Doch auch an einem Feiertag hat das Heidihaus geöffnet. Zu
schließen, wenn Touristen hier ihr Geld lassen wollen, wäre ja wohl ziemlich
unvernünftig. Und man ist viel zu schlau, um Besucher aus Maienfeld
fortzulassen, bevor sie es besichtigt haben: Kaum eine Ecke in der Stadt, wo
nicht ein Hinweisschild den Weg zum Original-Heidihaus verkündet. Natürlich
darf auch hier die ungefähre Gehzeit nicht fehlen: 45 Minuten Anstieg den
sanften Hang hinauf, stets die abschreckenden Berge vor Augen.
    Der alte Ortskern besteht aus nur wenigen Häusern
links und rechts der Straße, gleich dahinter schließen sich neuere Häuser und
Wiesen mit wiederkäuenden Kühen an. Hollywood könnte schwerlich eine bessere
Kulisse für Shirley Temple als niedliches rotbäckiges Mädchen finden.
Angesichts seiner vielen sonstigen Ungenauigkeiten bezweifle ich sowieso, dass
der Heidi -Film von 1937 der ländlichen Idylle
gerecht wird. Liegt es doch vor allem an ihm, dass die meisten Leute glauben,
Heidi sei ein blondes Mädchen gewesen. Im Buch hat sie einfach braunes Haar,
und sie singt und tanzt auch nicht. Wahrscheinlich hätte Johanna Spyri die
Shirley-Heidi nicht wiedererkannt.
    Falls Sie in Ihrer Kindheit auf die Heidi -Lektüre verzichten mussten, hier Teil zwei: Kaum hat
sie sich an den Opa und die Ziegen gewöhnt, holt sie ihre Tante und bringt sie
nach Frankfurt, wo sie Clara, einem reichen kranken Mädchen, Gesellschaft
leisten soll. Die reinste Katastrophe. Nicht nur, dass sie jetzt in einer
deutschen Großstadt wohnen muss, Claras Gouvernante mit dem köstlichen Namen
Fräulein Rottenmeier ist auch noch ein wahrer Drachen. Ohne ihre tägliche
Ziegenmilch und die Bergluft, die ihr schrecklich fehlen, siecht Heidi binnen
Kurzem dahin. Aber die Geschichte endet – natürlich! – gut: Heidi kehrt in ihre
geliebten Schweizer Berge zurück. Und als Clara zu Besuch kommt, kurieren
Ziegenmilch und frische Luft auch sie: Nun braucht sie keinen Rollstuhl mehr
und tollt über die Wiesen. Freudentränen ringsum.
    Ihnen ist vielleicht aufgefallen, dass meine
anfängliche Begeisterung für das Buch ungefähr in dem Augenblick schwand, als
Heidi nach Frankfurt fährt. Ja, auch der erste Teil war ein bisschen kitschig,
aber Heidis Unschuld, ihre Liebe und ihr Zutrauen zu anderen waren sehr
reizend. Doch als ein böses deutsches Fräulein auf den Plan tritt und unsere
Heldin in Trübsal versinkt, verliert man schier die Lust zum Weiterlesen. Wenn
dann Clara auch noch durch eine Diät aus Brot, Ziegenmilch, Liebe, Vertrauen
und frische Luft geheilt wird (ohne dass Gemüse oder Obst auch nur erwähnt
werden), wird das Buch zur Qual. Vielleicht bin ich aber auch nur zu sehr
Zyniker des 21.
Jahrhunderts, um eine moraltriefende Geschichte aus dem 19. Jahrhundert schätzen zu
können.
    Verglichen mit dem Heidihaus war allerdings selbst der
zweite Teil der Geschichte ein Genuss. Ich hatte eine Berghütte aus Holz
erwartet, geriet aber stattdessen in eine Art Palast: drei Stockwerke mit
Steinböden, Glasfenstern und ein hübscher
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