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Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher
Autoren: Diccon Bewes
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Garten. Drinnen ist es noch
schlimmer. Eine voll ausgestattete Küche, ein Kachelofen, Innentoilette und ein
eigenes Zimmer für das Heidi – mit Möbeln, die Barbie gefallen würden. Doch
meine Enttäuschung wird mehr als wettgemacht durch das Vergnügen über die
Einträge im Gästebuch. Die wenigsten scheinen zu merken, dass sie hier einem
Trugbild aufsitzen, dass hier eine touristentaugliche Disney-Heidi mit
Souvenirpotenzial geschaffen wurde. Das alles scheint Welten entfernt von den
anderen Spyri-Stationen meiner Heidi-Suche: dem Grab in Sihlfeld, dem Haus in
Zürich, dem Museum in Hirzel – alles ganz unaufdringlich, so typisch Schweiz.
Kein Rambazamba, kein Rummel, der die Verbindung zu Johanna Spyri aufbauscht
oder verfälscht, damit es sich in Form von Touristen-Dollars (beziehungsweise
-Yen oder -Euro) auszahlt, sondern bescheiden und diskret wie die allermeisten
Schweizer auch.
    Im Heidi-Shop wird ihr Name noch unverfrorener
eingesetzt, um Touristen zu verkaufen, was ihr Herz begehrt (auch wenn sie
davon vorher nichts geahnt haben). Kein leichtes Unterfangen, sich an die
Unschuld des Mädchens zu erinnern, wenn man sie auf den Etiketten von
Weinflaschen und Kaffeebohnen sieht. Dieser profitorientierte Einsatz ihres
Namens ist umso unangenehmer, weil er ihrem im Buch geschilderten Naturell
völlig zuwiderläuft. Immerhin wird sie sogar krank, als sie in der großen bösen
Kapitalistenmetropole fremdartige Speisen wie Fisch und Gemüse essen muss und
nicht einfach loslaufen und spielen darf. Ein Kanten Brot, eine Weide voller
Ziegen und Bergblick genügen, um aus ihr das glücklichste Mädchen der Welt zu
machen. Wenn man allerdings bedenkt, wie gern die Schweizer Geld scheffeln, hat
Heidi vielleicht doch nicht ihre Seele verkauft, sondern ist nur zu einer
geschäftstüchtigen Schweizerin herangewachsen. Obwohl sie zumindest hier in
Maienfeld ihren Reichtum allzu protzig zur Schau stellt, was eine echte
Schweizerin nie tun würde.
    Meine Heidi-Suche ist zu Ende. Heidiland zieht an den
Zugfenstern vorbei, die scharfkantigen Berge weichen dem sanften Grün
bewaldeter Hügel. Das kleine Mädchen, das die Schweiz in der Welt
repräsentiert, lebt und ist wohlauf, man trifft sie in ihrem Land überall an.
Dank 50 Millionen Exemplaren nach der Erstausgabe wird sie von Kindern geliebt wie eh
und je, insbesondere in den USA und Japan. Nicht
schlecht für eine Romanfigur, die über 130 Jahre auf dem Buckel
hat. Heidi war der Harry Potter ihrer Zeit, nicht zuletzt weil auch sie bis
heute erbarmungslos vermarktet wird.
    Die Parallelen zwischen den beiden Autorinnen sind
erstaunlich. Johanna Spyri war seinerzeit die berühmteste lebende
Kinderbuchautorin, nicht anders als J. K. Rowling heute. Beide sind durchs
Schreiben reich und berühmt geworden, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maß,
und haben danach Kinderwohltätigkeitsprojekte gefördert. Sie haben sogar
denselben Vornamen, der anfangs bei beiden verschwiegen wurde. Allerdings ist
Johanna nie wirklich glücklich geworden, was Joanne K. offenbar gelungen ist;
sie konnte sich im Grunde nie mit der Welt um sich herum anfreunden. Es ist
wohl kein Zufall, dass Heidi krank wird, als sie in die große Stadt kommt –
nicht anders ist es ihrer Schöpferin ergangen – und es ein Happy End in den
geliebten Bergen gibt. Vor ihrem Tod hat Johanna ihre Tagebücher und Briefe
verbrannt, und so werden wir wohl nie erfahren, wer sie wirklich war.
Vielleicht sieht man deshalb immer und überall in Heidi und nicht in ihrer
Schöpferin die Verkörperung schweizerischer Weiblichkeit. Oder es liegt daran,
dass man leichter an ein Bild glaubt, das sich nie verändert? Die Schweiz der
Johanna Spyri mag schon längst versunken sein, doch der Geist ihres Geschöpfs
lebt fort – als romantisiertes Bild all dessen, was wahrhaft schweizerisch ist.



Willkommen bei den Müllers
    Um der Schweizer Identität auf die Spur zu kommen,
sollten wir uns statt historischer und fiktionaler Gestalten vielleicht lieber
die heutigen Schweizer anschauen. Immerhin ist die Schweiz dank ihren Bewohnern
das geworden, was sie ist. Und dazu sollten wir vorgehen, wie es ein Schweizer
täte, und die Statistik bemühen. Es ist also an der Zeit, die Müllers
kennenzulernen, die archetypische Schweizer Familie.
    Stefan und Nicole sind Ende dreißig und haben nach
acht Jahren Ehe zwei
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