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Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher
Autoren: Diccon Bewes
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was alle Eidgenossen verbindet, ist der Wille, Schweizer zu
bleiben. Sie trauen einander zu, angesichts all ihrer Widersprüche nicht zu
schwächeln, sondern daran zu wachsen und das Gemeinwohl zu mehren. Das
funktioniert nicht immer – wie das Blutvergießen früherer Jahrhunderte beweist –, und es ist nicht immer leicht, wie die Sorge um die Zukunft zeigt. Das
Geheimnis des Schweizer Erfolgs liegt darin, aus dem Ganzen weit mehr zu machen
als die Summe seiner Teile, aber um welchen Preis?
    Damit das Kollektiv Erfolg hat, muss das Individuum
auf dem Altar der Konformität geopfert werden. Querulanten haben in der Schweiz
keine Chance, Anpassung heißt die Devise. Hier konnten weder Monarchen noch
Präsidenten Geschichte schreiben, in diesem Staatsgebilde ging es von Anfang an
um Konsens. Wahrscheinlich gibt es deshalb so wenige Stars in der Schweiz: Es
liegt den Schweizern nicht im Blut, den Kopf herauszustrecken – und wer es tut,
bekommt leicht eins auf die Nase. Egoismus ist in der Schweiz nicht populär,
wie Exbundesrat Blocher feststellen musste. Das Fehlen von Galionsfiguren ist
so typisch Schweiz, dass es den Eidgenossen gar nicht auffällt. Die Schweiz war
von jeher ein Kollektivunternehmen, und genauso gefällt es ihren Bewohner: Über
das, was sie betrifft, wollen sie selbst entscheiden, ohne dass ihnen jemand
reinredet.
    Vielleicht ist es dieses starke Gefühl, das eigene
Schicksal selbst bestimmen zu können, das die Schweizer mit ihrem Los aussöhnt
– sodass sie schon beinahe selbstzufrieden wirken. Allerdings hat ihr
nationales Selbstwertgefühl in letzter Zeit ein paar Dellen bekommen (Nazigold,
die Pleite von Swiss Air, die Traumata wegen des Bankgeheimnisses), sodass man
gewöhnlich nicht mehr das Gefühl hat, das eigene Land wecke den Neid der Welt
(außer man ist SVP -Anhänger). Zwar leben die
meisten Eidgenossen gern in ihrer geordneten, kontrollierten Welt, doch für
manche sind die Restriktionen zu einschneidend. Es kann kein Zufall sein, dass
so viele Schweizer ins Ausland gehen, um Ruhm oder auch nur sich selbst zu
finden: Bekannte Beispiele sind César Ritz, Ursula Andress und Le Corbusier.
Sie sind entflohene Häftlinge, wie es der Schweizer Schriftsteller Friedrich
Dürrenmatt vielleicht formuliert hätte. Einmal äußerte er, sein Land sei ein
Gefängnis, in dem die Gefangenen ihre eigenen Wärter sind. Das ist ein bisschen
hart – die Schweiz mag eine einsame Insel sein, aber sie ist nicht Alcatraz,
wenngleich die Schweizer sich alle Mühe gehen, sich selbst, ihr Geld und ihr
Land vor der Außenwelt zu schützen. Vielleicht ist sie eher Festung als Knast.
    Eine noch bessere Analogie ist der Bienenstock. All
die emsigen Bienen sehen sich ähnlich, aber jede hat die ihr zugewiesene Rolle,
damit das gemeinsame Ziel erreicht werden kann: die Königin zu beschützen. In
diesem Fall heißt sie Helvetia und ist eine elegante, schöne, wohlgerüstete
Frau, die Münzen schmückt und den Briefmarken ihren Namen leiht. Sie ist der
Grund, warum die Schweizer alle an einem Strang ziehen, auch wenn sie dafür ihr
Selbstgefühl aufs Spiel setzen. Ein wunderbares Nebenprodukt ist natürlich der
Honig, im Fall der Schweiz die Schokolade. Und wenn eins ein bisschen
Gemeinschaftsgeist lohnt, dann der Schoggi.
    Um die Schweizer wirklich zu verstehen, müsse man nur
den Wilhelm Tell lesen, riet mir ein älterer
Schweizer. Stimmt, Tells Geschichte bringt den Schweizer Charakter auf den
Punkt, aber ist es nicht seltsam, dass ein von einem Deutschen verfasstes
Theaterstück Fundament einer Nation sein soll? Doch der Mythos Schweiz, ob Tell
oder Heidi oder die Kriegserfahrung, ist nun einmal genauso wichtig wie die
Wirklichkeit. Im Grunde ist die Schweiz ein Marketingmanöver auf nationaler
Ebene, bei dem der Erfolg alle Mittel heiligt. Die schwyzerdütsche Mehrheit
übernimmt bereitwillig Klischees wie das Fondue und die Milchschokolade, die
beide im französischsprachigen Landesteil erfunden wurden. Und zwar weil es sich
umsatzsteigernd auswirkt, das Image des Landes zu stärken – ein Image, das
darauf beruht, irgendwie sauber, ordentlich, akkurat und tüchtig zu sein.
Diesem Ideal zu entsprechen kann schwierig sein, aber es funktioniert, weil die
Schweizer selbst daran glauben. Und die Gemeinschaft über das Individuum
stellen, um es zu erreichen.
    Um dieses gemeinsame
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