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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort
Autoren: Monika Held
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Terrasse blicken und jeder weiß, dass man nach ›dem Wiener‹, wie man ihn nennt, die Uhr stellen kann. Es ist drei, wenn er den Mittagsschlaf in der Hollywoodschaukel beendet, und, als könne er anders nicht wach werden, eine Stunde schnell durch den Wald marschiert. Es ist vier, wenn ›der Wiener‹ auf der Terrasse Kaffee trinkt. Die Tagesschau ist zuende, wenn er seinen Abendspaziergang durch die Siedlung antritt, als inspiziere er sie, immer mit einer glimmenden Zigarette in der linken Hand. Der Mann ist nicht unsympathisch, nur etwas eigenartig. Er bekommt viel Post und steckt mehrmals in der Woche dicke Umschläge in den Briefkasten.
    Lena schiebt den Motorroller in die Garage, deckt den Frühstückstisch, kocht Kaffee und öffnet leise die Schlafzimmertür.
    Bist du wach?
    Wenn er nicht antwortet, lässt sie ihn schlafen. Wenn er den Kopf leicht bewegt, ist er wach, aber noch nicht bereit für den Tag. Dann geht Lena ins Arbeitszimmer, beginnt mit der Übersetzung eines Textes und achtet auf die Geräusche aus dem Schlafzimmer. Wenn sie die Dusche hört, macht sie Rührei mit Speck für Heiner und für sich zwei Eier im Glas.
    Seine Haare sind feucht. Er duftet nach Lavendel. Er trägt den Bademantel aus Samt, den sie ihm zum Geburtstag geschenkt hat. Mohn für Lena, Kümmel für Heiner. Manchmal sagt er: Auch in größter Not wünschen wir uns Salz und Brot.
    Sonntag kommt Besuch, sagt Lena.
    Wer?
    Eine Kollegin. Sie ist neu in der Gegend. Nett, ich mag sie.
    Gut, sagt Heiner, dann mag ich sie auch. Wie heißt sie?
    Ninja. Verschreck sie nicht mit deinem Sand. Oder doch. Schau, wie’s dir geht.

Seine Augen waren geschlossen, als ihm Lenas Haare ins Gesicht fielen. Er wusste nicht, wie die Frau, die sich über ihn beugte, aussah, aber der Geruch ihrer Haare gefiel ihm.
    Auch Lena wird den ersten Anblick von Heiner nicht vergessen. Da lehnte ein großer, hagerer Mann an der Wand des Gerichtsflurs und sackte langsam, Zentimeter für Zentimeter, in sich zusammen. Sie hatte die letzten Stunden in ihrem Büro gesessen und die Aussage des polnischen Zeugen übersetzt, der sich geweigert hatte, nach Deutschland zu kommen. Ihr Büro war stickig, es hatte kein Fenster, aber das Gefühl, keine Luft zu bekommen, hatte mit den Texten zu tun. Sie heftete das Protokoll in den Ordner, den sie dem Richter ins Büro legen wollte. Es war Freitag, der 5. Juni 1964, ein warmer Sommertag, an dem Lena, um die Aussagen des Zeugen aus dem Kopf zu bekommen, schöne Dinge geplant hatte. Schwimmen, dösen im Freibad, mit Tom ins Kino gehen und danach irgendwo in der lauen Nacht einen Wein mit ihm trinken.
    Das Gesicht des Mannes, der wie in Zeitlupe an der Wand herunter rutschte, war bleich. Lena rannte auf ihn zu, hielt ihn an den Schultern fest, bis er sicher in der Hocke saß. Passen Sie auf den Ordner auf, sagte sie und lief in die Kantine. Sie besorgte einen Stuhl, kaufte Wasser und Nussschokolade und organisierte ein Kissen für seinen Kopf. Er hatte sich die braunen Locken hinter die Ohren geklemmt, auf seiner Stirn stand Schweiß. Sie wusste, wer er war. Der Zeuge aus Wien, der für den 5. Juni 1964, den 52. Verhandlungstag, um 8.30 Uhr vorgeladen worden war. Sie wischte ihm mit ihrem Taschentuch die Stirn trocken, er öffnete die Augen. Sie waren blau und sehr hell, so hatte sie in der Schule den Himmel aufs Papier getuscht.
    Geht’s, fragte sie.
    Er trank einen Schluck Wasser, biss in die Nussschokolade, ließ sich von Lena auf den Stuhl helfen. Später gestand er, sich weniger mit seiner Schwäche als mit Lenas kräftigen Händen und dem Geruch ihrer Haare beschäftigt zu haben. Und Lena dachte: Was für ein zartes Gesicht. Das erste Wort, das er flüsterte, war ein Gruß: Servus. Er wollte an diesem Tag keine einzige Frage mehr beantworten, aber Lena hatte mehr Fragen als der Richter und wollte alles auf einmal wissen. Sind Sie alleine in Frankfurt? Kümmert man sich um Sie? Wie lange sind Sie schon hier? Wie lange werden Sie bleiben? Wohnen Sie im Hotel? Was machen Sie abends?
    Der Mann, dem langsam wieder Farbe ins Gesicht stieg, sagte matt:
    Ich versuche, durch die Stadt zu gehen.
    Wieso versuchen?
    Weil es nicht geht. Ich verlasse das Hotel und bin nach zehn Minuten wieder da.
    Warum?
    Er lächelte. Es sind zu viele Deutsche in der Stadt.
    So, so, sagte Lena, zu viele Deutsche, da kann man nichts machen, die wohnen hier.
    Junge Leute sind nicht das Problem, sagte er, aber die in meinem Alter und älter, die
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