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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort
Autoren: Monika Held
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Faust. Heiner wich zurück als Kaduk schrie: Wälz du nur alles auf mich, ha! Da war er wieder, der Kaduk von damals. Das Brüllen und das ›Ha‹ am Ende oder Anfang des Satzes. Ha, auf die Kleinen wird alles geschoben und den Großen passiert nix, die lässt man laufen und unsereins kriegt lebenslänglich. Er starrte den Richter an. Wollt ihr wissen, wie es war? Der Richter nickte. Darum sind wir hier. Es war wie es war, schrie Kaduk, die Herren Befehlshaber sollen das jetzt nicht leugnen, die Transporte rollten ins Lager wie warme Brötchen vom Band, alle haben an der Rampe Dienst getan und natürlich gingen die Kinder zuerst ins Gas, logisch und dann die Mütter, die sich an die Kinder klammerten, aber ich hab’ niemanden dort hingeschickt, ich nicht, ich hab nur aufgepasst wie ein Luchs, dass sich aus der Gruppe der Todeskandidaten niemand davonschlich. Ja, ja, ich war ein scharfer Hund, der Lagerbetrieb kostete Nerven, das können Sie mir glauben, das war harte Arbeit, aber ich war nicht der Typ, der zusammenbricht – hier in der Zelle krieg ich den Nervenzusammenbruch – und wissen Sie, warum? Weil im Gericht mit zweierlei Maß gemessen wird.
    Heiner drückte sich an die Wand. Kaduk war ein schwerer Brocken. Auf keinen Fall sollte Kaduk sehen, dass er zitterte. Der Richter versuchte, Kaduk zu beruhigen. So setzen Sie sich doch, Herr Kaduk, so setzen Sie sich doch. Als er sich endlich auf den Stuhl fallen ließ, holte Heiner noch einmal tief Luft, um aus dem Bildersturm in seinem Kopf die Sätze zu machen, auf die es ankam. Seine Stimme war leise und fest. Kaduk machte es mit dem Knüppel sagte er und Klehr mit der Spritze.
    Als die beiden Männer, denen er im Lager so oft gefährlich nah gekommen war, aus dem Besucherzimmer geführt wurden, schob der Richter Heiner den Stuhl hin, auf dem Josef Klehr gesessen hatte. Bitte, sagte Heiner, gehen wir, auf diesem Stuhl kann ich nicht sitzen.
    Das war vor einem Jahr gewesen und nun sollte er vor Gericht wiederholen, was er gesehen hatte. Ganz genau. Wann, wo, wie. Im Protokoll hieß es später, die Vernehmung des Wiener Zeugen Heiner Rosseck am 52. Verhandlungstag habe unterbrochen werden müssen, weil der Zeuge weinte und nicht weitersprechen konnte. Aber es waren nicht die Erinnerungen, die ihn überwältigten. Über das, was er erlebt hatte, konnte er reden, dafür war er nach Deutschland gekommen. Was ihn an diesem Morgen fertig machte, war die Wahrheitssuche im Sinne des Strafgesetzbuches. Er wusste, dass es im Prozess um Daten und Fakten ging, nicht um Gefühle, aber er hatte sich überschätzt. Vor ihm saß der Richter, dessen Ton so tadelnd war, als hätte er den untauglichsten Zeugen eines Verkehrsunfalls vor sich. Die ganze Welt hätte in die Entfernung gepasst, die zwischen den Bildern lag, die in ihm waren, und den Fakten, die der Richter hören wollte. Sein Fell war nicht so dick wie es für den Auftritt hätte sein müssen. Hinter ihm saßen die Täter. Er musste sich nicht umdrehen, er wusste, dass ihre Gesichter voller Hohn und Spott waren. Klehr grinste. Kaduk warf frech den Kopf in den Nacken. Die Fragen ihrer Anwälte waren schneidend oder süffisant: Wo soll das gewesen sein? An welchem Tag, in welchem Monat, mittags oder abends? Aus welcher Entfernung haben Sie das gesehen? Zehn Meter, zwanzig Meter? Sie wollen aus fünfzig Metern Entfernung ein Gesicht erkennen? Und das Wetter? Lag Schnee? Fiel Regen? War es neblig an diesem Tag? Die Tür, durch die Sie Herrn Klehr beim Spritzen beobachtet haben wollen, war die rechts oder links, vorne oder hinten in der Baracke? Gab es überhaupt eine Tür oder hing nur eine Decke vor dem Raum? War die braun oder blau? Es war leicht, ihn aus der Fassung zu bringen. Die Anwälte der Täter waren wie die Hunde im Lager. Lauernd, bissig und sprungbereit.
    Sein Kopf drehte sich, er begann zu stammeln. Er brach in Tränen aus und bat um eine Pause.
    Am Abend des 52. Verhandlungstages waren Heiner und Lena die einzigen Gäste im ›Café Stern‹. Das Café lag im Gallusviertel, in dem auch das Gericht tagte. Lena trank Wein, Heiner rauchte zu jedem Kaffee zwei Zigaretten. Sie hatten schnell einen guten Ton gefunden, ernst und heiter und schon ein bisschen vertraut durch die Begegnung auf dem Flur. Heiner ließ sich beschreiben, wie er langsam an der Wand zu Boden rutschte und Lena wollte wissen, was er von ihr wahrgenommen hatte. Die Haare auf meinem Gesicht, sagte er, wie ein Tuch aus kühler Seide. Und der
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