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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort
Autoren: Monika Held
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verreisen. Ein einziges Mal, gleich nach der Hochzeit, war es ihr gelungen, ihn an die Adria zu verschleppen. Sie wohnten in einem kleinen Hotel am Meer. Das Wasser war blau wie der Himmel, sie konnten vom Fenster auf den Grund des Meeres blicken. Und während Lena schwamm und in der Sonne lag, blieb Heiner im Hotelzimmer. Er langweilte sich nicht. Er las und schlief und machte Notizen für einen Essay über das Leben nach dem Überleben. Er genoss die Liebe mit Lena. Sie roch nach Meer und schmeckte nach Sand – er hätte sie am liebsten nie mehr losgelassen. Dass er sich dafür auf eine kroatische Insel, die Dogi Otok hieß, bemühen musste, nahm er in Kauf. Für Heiner, das wusste Lena nach diesem Urlaub, ist Schönheit nicht der Ort der Erlösung. Schönheit quält und blendet ihn und macht die Bilder, die er in sich trägt, noch düsterer und außerdem hat er seinen eigenen Sand, in den er hin und wieder seine Finger steckt. Der steht daheim im Senfglas auf der Anrichte, drei Schritte vom Sofa entfernt.
    Wie geht es dem Manne, fragt der näselnde Kellner im ›Café Plüsch‹. Er fragt das jeden Morgen zwischen Lenas erstem und zweitem Mokka und Lena sagt: Danke, der Mann ist wohlauf, auch, wenn es ihm nicht gut geht. Um neun fährt sie zurück in die Siedlung. Nur mittwochs und freitags wird es zehn, weil an diesen Tagen die Frau des Pfarrers an der Orgel übt. Es gibt um dieses Orgelspiel ein Ritual, von dem niemand weiß, wann es begonnen hat. Die Organistin betritt die Kirche und zieht die schwere Tür hinter sich zu. Sobald sie die ersten Töne anschlägt, macht irgendeiner die Tür wieder auf, damit die Musik auf den Marktplatz strömen kann. Zwei Mal in der Woche beobachtet Lena fasziniert, wie eine Viertel Stunde Musik von Bach oder Bruckner ausreichen, den Alltag ein ganz klein wenig aus der Routine zu bringen. Eine Frau unterbricht den Einkauf und setzt sich auf die Kirchenstufen. Der Bäcker öffnet das Fenster zur Backstube, die Buchhändlerin stellt sich vor die Ladentür und Lena legt die Zeitung aus der Hand. Für den Metzger ist es ein Unterschied, ob er das Beil montags oder freitags in den Lammnacken schlägt. Von Orgelmusik begleitet, sagt er, bekomme das Schlachten etwas Heiliges.
    Als Heiner und Lena das Haus am Waldrand bezogen, im Herbst 1966, galten sie zwischen den jungen Familien als altes Paar. Er Mitte vierzig, sie zehn Jahre jünger. Fünfzehn Jahre später fragten sich nur noch die Neuen in der Siedlung, wie dieses Paar zusammenpasste. Die burschikose Frau, die laut und gerne lacht und die beste Pflaumenmarmelade in der Siedlung kocht, die Polnisch und Französisch spricht, verrückte Hüte und Schuhe mit gefährlich spitzen Absätzen trägt, wenn sie im alten Daimler in die Großstadt fährt. An der Haustür hängt ein Schild: Lena Rosseck, Diplomdolmetscherin. Auf dem Motorroller lässt sie die langen Haare im Wind flattern und sieht fast aus, als sei sie die Tochter des Mannes mit den tiefen Falten im Gesicht. Sein ›Servus‹ ist charmant, nur fällt sein Lächeln nach dem Gruß schneller in sich zusammen als das Lächeln anderer Menschen. Es ist merkwürdig mit den Beiden. Sie sind ein unauffälliges Paar, aber man kann lange über sie reden. Bei den Rossecks brennt im Wohnzimmer oft die ganze Nacht Licht, dann fällt ein dünner, gelber Streifen zwischen den Gardinen hindurch auf die Straße. Man sagt, der Mann sei auch nicht zur Arbeit gefahren, als er noch jünger war. Er liest nachts, vielleicht ist er ein Gelehrter. Die Rossecks haben hin und wieder Besuch, der lange bleibt. Manchmal zwei Wochen. Es sind Leute, die das ›R‹ stark rollen und aus Polen kommen, oft stehen auch Autos mit österreichischem Kennzeichen vor der Tür. Mit den Polen kann man sich unterhalten, sie sprechen deutsch. Warum die quirlige Frau diesen sonderbaren Mann liebt – man weiß es nicht, sie wird ihre Gründe haben. Vielleicht ist er reich und sie hat in der Stadt noch eine andere Liebe. Sie sind die einzigen in der Siedlung, bei denen man noch nie einen Weihnachtsbaum gesehen hat. Sie feiern die Tage mit Gästen aus Polen und Wien, man sieht es an den Nummernschildern. Jeder weiß, dass Lena im Ort eine Freundin hat, Gesa, die Frau, der das Kino gehört. Wenn keiner die Filme sehen will, die Gesa bestellt, sitzen die Frauen allein im Saal, gucken Kino und trinken Wein. Außer Gesa, dem Arzt und dem Postboten hat niemand das Rosseck-Haus von innen gesehen. Vom Wald aus kann man auf die
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