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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort
Autoren: Monika Held
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der arme Bub! Sie halfen ihm auf und schoben ihn an wie einen störrischen Esel. Einmal schenkte ihm eine alte Frau einen Zipfel Wurst.
    Heiner lernte neue Wörter. Plötzlich gab es Männer, die man Bettgeher, Schlafburschen oder Aftermieter nannte. Sie hatten Arbeit, aber kein Geld für ein Zimmer. Alle Familien, die er kannte, hatten nun Bettgeher, auch bei Martha wohnte einer, und eines Tages brachte Heiners Großmutter einen mit, der, so waren die Regeln, nicht vor neun Uhr abends kommen durfte und morgens um sieben das Haus zu verlassen hatte. Die Männer gehörten nicht zur Familie, sie mussten sonntags, wenn sie nicht zur Arbeit gingen, auf Parkbänken schlafen. In der Wohnung des Genossen Paul sah Heiner Kreidestriche auf dem Boden. Vor der Wohnstube war so ein Strich, vor dem Zimmer, in dem Paul mit seinem Sohn schlief und vor der Küche. Was spielt ihr hier, fragte er den Freund. Es war kein Spiel. Paul hatte mit Kreide die Bereiche markiert, die der Schlafbursche nicht überschreiten durfte. Dem Bettgeher seiner eigenen Familie ist Heiner nie begegnet. Alma hatte ihn nachts auf dem Flur gesehen. Er ist ein Zwerg, sagte sie, mickriger als Greta, davon passen zwei in ein Bett.
    Wie lange das her war. Ein Leben vor dem Leben. Heiner stand auf. Er schob den Stuhl unter den Tisch. Die ganze Familie versprengt und jetzt so nah bei ihm in diesem Raum. Er stellte das Salzfass wieder auf den Tisch. Genau in die Mitte, dort, wo in der Spitzendecke ein Loch war.
    Auf den Stühlen und dem Fußboden lag eine dicke Schicht Staub. Von den Zimmerdecken hingen Netze mit reglosen Spinnen, die schliefen oder tot waren. Sollte er die Wohnung aus ihrer staubigen Starre befreien oder den Spinnen überlassen? Oder muss nicht ein neues Leben mit einer neuen Wohnung beginnen? Im Teppich waren Löcher. Die Motten hatten mehr zu essen gehabt als er.
    Als er die Wohnung verlassen wollte, entdeckte er Abdrücke von Schuhen, die größer waren als die Spuren, die er selbst hinterließ. Wer immer das gewesen sein mag – diese Füße waren nur über den Flur ins Wohnzimmer gegangen, von dort zum Sofa, über dem die Kuckucksuhr hing und zurück zur Wohnungstür. Nur diesen Weg. Es waren lange Schritte, länger als seine. Sie waren nicht im Kinderzimmer gewesen, nicht im Bad, nicht in der Küche. Als er die Wohnung verlassen wollte, hörte er ein dumpfes Klopfen. Er ging zurück ins Wohnzimmer und sah, dass sich das Türchen der Kuckucksuhr verkantet hatte. Als er es öffnete, schoss der kleine Vogel heraus und schmetterte ihm das vertraute ›Kuckuck‹ entgegen.
    Hunderttausend Bomben waren auf Wien geworfen worden, vierzigtausend Wohnungen geborsten, die halbe Welt zertrümmert, Millionen Menschen ermordet – und in diesem Inferno musste irgendein Verrückter alle acht Tage die Kuckucksuhr aufgezogen haben. Und er, Überlebender des Wahnsinns, ein Heimkehrer, befreite einen Holzkuckuck aus der Gefangenschaft. Er stand vor der Uhr und lachte sein Heiner-Lachen, das sich wie ein Asthmaanfall anhörte.

Sacht, um Heiner nicht zu wecken, zieht Lena die Tür hinter sich zu, schiebt den Motorroller aus der Garage und fährt fünf Kilometer auf schnurgerader Straße in den Ort, zu dem die Siedlung gehört. Sie hätte das Haus am Wald nicht gewollt, wenn es dieses Städtchen nicht gäbe. Ihre Augen brauchen mehr Farben als das dunkle Braun der Baumstämme, samtbraune Eichhörnchen und grüne Tannennadeln und ihre Ohren andere Geräusche als kreischende Vögel und knackendes Unterholz. Sie braucht die Stimmen der Händler auf dem Samstagsmarkt, den Verkehrslärm, das Gefühl, Teil dieses Treibens zu sein. Der Ort hat ihr von Anfang an gefallen. Die hohen Fachwerkhäuser am Marktplatz waren fünfhundert Jahre alt, weiß und rot, die Dächer aus glänzendem Schiefer. Im Sandsteinbrunnen baden Tauben und im Sommer sitzen auf dem Rand Touristen.
    Wenn sich Lena vom Bäcker die Tüte mit ›zwei Mohn, zwei Kümmel für Rosseck‹ geben lässt, ist es kurz nach acht. Danach fährt sie zum Kiosk, nimmt die Tageszeitung vom Stapel und für Heiner den ›Wiener Kurier‹. Sie setzt sich zum Lesen in das angestaubte ›Café Plüsch‹ am Marktplatz und trinkt zwei Mokka ohne alles. Am liebsten liest sie die Reiseseiten der Zeitung. Lena träumt von der Südsee. Vier Wochen unter Palmen sitzen, mit bunten Fischen schwimmen, die Hände im heißen Sand vergraben – aber wer einen Mann wie Heiner heiratet, muss auf die Südsee verzichten oder alleine
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