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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort
Autoren: Monika Held
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die Sperren, rückten näher und näher, Steine flogen, Scheiben zersplitterten. Mutige Männer stürmten den Palast, zerlegten die Möbel mit Beilen und zündeten an, was brennbar war. Das Feuer fraß sich durch das Dach, der Qualm stieg zu den Wolken empor. Das Volk wehrt sich, vergiss das nie, Bub. Gehen wir hin, bettelte Heiner, schauen wir zu. Kinder haben dort nichts zu suchen, sagte der Vater. Nach dem Mittagessen verließ er die Wohnung, beim Abendessen fasste er den Tag zusammen. Die Polizei hatte in die Menschenmenge geschossen. Es gab neunundachtzig Tote und über tausend Verletzte. Gib acht, Bub, die Rechten bekommen Zulauf. Er nahm das Besteck in die Hand. Die Mörder sind frei, sagte er leise, wir gehen radikalen Zeiten entgegen. Hört auf mich, das ist der erste Schritt in den Bürgerkrieg. Guten Appetit. Für Heiner war der Vater ein Prophet.
    Mit elf ging er zu den Roten Falken. Er lernte Marx und Martha kennen. Ein dünnes Mädchen mit dicken Zöpfen, die erste in dem neuen Kreis, die ihn nach seinem Namen fragte. Andere Jungens schwärmten von Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah, aber Heinerle, wie Martha ihn nannte, träumte von der Diktatur des Proletariats und verliebte sich in das dünne Mädchen, das die gleichen Träume hatte wie er. Für Gerechtigkeit waren sie bereit, wie Heiners Oma, auf die Barrikaden zu gehen.
    Als er dreizehn war, starb sein Vater. Ein Jahr später begann der Bürgerkrieg. Heiner und Martha verteilten Flugblätter. Es gab nur rechts oder links. Links stand für Gerechtigkeit, rechts für Ausbeutung. Sie wussten, wohin sie gehörten. Alles, was die Sozis in Wien für die Armen erreicht hatten, wollten die Rechten abschaffen. Wohnungen, die alle bezahlen konnten, den Mieterschutz, die Luxussteuer für den Besitz von Dienern und Hausmädchen, Reitpferden und privaten Autos. In vielen Wiener Bezirken war es nicht mehr gemütlich. In den Parlamenten schlugen sich die Großen und auf der Straße die Kleinen. Heiner prügelte sich für seine Mutter, der die Pension ihres Mannes abgesprochen wurde, weil sie nur die zweite Ehefrau gewesen war. Trotzig erbettelte sie auf dem Gnadenweg eine Waisenpension für ihre Kinder und putzte zehn Stunden am Tag die Wohnungen reicher Leute. Beim Essen saß Heiner jetzt am Kopfende des Tisches und spielte Haushaltsvorstand. Er hielt politische Vorträge, zitierte Marx und sagte ›Rotfront‹, bevor er das Besteck in die Hand nahm. Als er seine Mutter ›Putzlappen des Klassenfeindes‹ nannte, warf sie ihm das leere Portemonnaie auf den Teller. Kauf Brot und Fleisch, sagte sie, dann kannst du wiederkommen. Wütend lief er durch die Stadt, klingelte bei Martha und erfuhr, dass auch ihre Mutter putzen ging. Da war er still. Ohne die Arbeit ihrer Mütter wären sie verhungert. Putzen beim Klassenfeind – für diese Demütigung, das schworen sie, würden sie sich rächen.
    Er ging ohne Kaffee und ohne einen Bissen Brot aus dem Haus. Er sah rote und schwarze Kringel, verkroch sich in Hauseingängen und wartete, bis der Schwindel verging. Sein Blick für die Straße wurde scharf. Er sah Menschen in Lumpen. Alte Mäntel, Hosen und Jacken wurden nicht weggeworfen, sie wurden geflickt. Er sah auf die Füße der Leute, ihre Schuhe fielen auseinander. In den Gassen, durch die sein Vater früher zielstrebig zur Arbeit gegangen war, standen nun Bettler. Er war nicht der einzige Junge, der im Hauseingang saß und mit roten und schwarzen Hungerkringeln kämpfte. Er begriff, dass die Not nicht mit Marx zu lindern war, es musste mehr passieren. Sein Gott wurde Stalin, sein Traum die Revolution. Mit Martha Flugblätter schreiben und in der Nacht verteilen war das Schönste, was er sich vorstellen konnte. Liebe und Gefahr – es war ein Rausch. Nach der Revolution wollten sie Abitur machen und studieren. In Wien und Moskau. Aber jetzt suchte Heiner erst einmal eine Lehrstelle als technischer Zeichner und als er die nicht fand, gab ihn seine Mutter zu einem Buchbinder in die Lehre. Buchbinder! Er arbeitete als Pferd. Man spannte ihn in aller Herrgottsfrühe in Ledergurte vor einen Planwagen, der vollgepackt mit Büchern war. Er wusste nicht, wie schwer Papier war, er lernte es. Er zog den Karren in vier Stunden vom fünften in den 17. Bezirk. Bücher ausladen, frisches Papier einladen, zurück vom 17. in den 5. Bezirk. Er brach auf der Straße zusammen wie ein geschundener Gaul. Die Leute blieben stehen: Schaut einmal –
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