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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort
Autoren: Monika Held
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Geruch. Haben Sie an einem sonnigen Tag im September schon einmal Steinpilze aus der Erde gedreht? So riecht Ihr Haar. Ihre Hände, sagte er, die kamen mir größer und kräftiger vor als die, die jetzt auf dem Tisch liegen. Chirurgenhände, sind Sie Ärztin? Es ging ihm gut. So leicht wie an diesem Abend mit dieser Frau, hatte er sich lange nicht mehr gefühlt. Er wollte ihr gefallen, sie unterhalten, er wollte, dass sie lachte. Ihr Lachen gefiel ihm, es war unbeschwert und laut. Für Lena machte er aus dem Weinkrampf im Gerichtssaal eine Kabarettnummer. Er sprach mit Wiener Akzent. Das müssen Sie sich so vorstellen, er zeigte auf den Mann, der am Nebentisch eine Bratwurst aß. Nach zwanzig Jahren wird dieser Mann vorgeladen und verhört. Heiner richtete sich auf, fragte im Ton der Verteidiger: Wie lang war die Wurst, die Sie aßen, zehn Zentimeter, zwölf Zentimeter, zwanzig Zentimeter? Hatte sie Kerben in der Haut oder war sie glatt? War sie braun oder blass, knusprig oder schlaff? Heiß oder kalt oder doch eher nur lauwarm? Herr Zeuge, welche Farbe hatte der Senf? War er hellgelb, goldgelb, orange oder braun? Mild, scharf oder mittelscharf? Körnig oder glatt? Oder haben Sie die Wurst ohne Senf gegessen? Gab es Ketchup oder Mayonnaise? Weißes oder graues Brot? Sind Sie von einem Deutschen bedient worden oder von einem Ausländer? Heiner war ein guter Schauspieler, er wartete auf Lenas Lachen, aber Lena lachte nicht. Sie sah ihn an, als hätte er etwas ungeheuer Trauriges erzählt und das gefiel ihm noch besser. Er spürte ihren Blick. Der war genau, dem entging nicht, dass seine Nase aussah, als habe er beim Boxen die meisten Kämpfe verloren und sein Kinn, wenn man genau hinsah, ein wenig schief war. Er hatte große Lust, sich zu verlieben aber es wäre ein Wunder, wenn ihm das ausgerechnet an dem Ort gelänge, an dem er mit so vielen Gefühlen zu kämpfen hatte. Sich verlieben – was für ein Chaos das wäre – eher zum Fürchten als zum Freuen. Und wenn sie sein Gefühl nicht erwiderte und nur aus Mitleid bei ihm saß, das würde ihm in dieser Stadt den Rest geben. Besser, sie nicht mehr zu treffen. Zarte Gefühle sind wie kleine Pflanzen. Man kann sie einfach aus der Erde reißen.

Im ›Café Stern‹ saßen sie am Abend des 53., 54. und 55. Tag des Prozesses. Als handle es sich um etwas Belangloses, erzählte er Lena, dass er seit fünf Jahren geschieden sei und eine Tochter habe in Wien, Kaija, der Kontakt sei abgerissen, ansonsten sei er nicht ganz frei aber auch nicht fest gebunden. Und Sie? Lena sagte lapidar: In meiner Wohnung lebe ich allein, ich habe keine Kinder, meine Bindung heißt Tom. Am 56. Verhandlungstag ging Heiner eine ganze Stunde an Lenas Hand durch die Stadt und war nicht sicher, ob die Hand ihn nur beschützen wollte oder ob es in ihr pochte wie in seiner. Er wurde sicherer, wagte scheue Blicke auf Menschen, dachte nicht bei jedem Gesicht, er habe es schon einmal gesehen. Bei seinem zweiten Auftritt vor Gericht saß Lena im Zuschauerraum, hörte die Fragen des Richters und die klare Stimme von Heiner. Zu wissen, dass sie da war, gab ihm Kraft, dennoch war ihm, als balanciere er auf einem Seil, das über eine tiefe Schlucht gespannt war. Er durfte nicht abstürzen, nicht noch einmal. Er musste sich erinnern, ohne die Bilder zu sehen, die zu den Erinnerungen gehörten. Beweise im Sinne des Gesetzes, nur darauf kam es an. Mord, auch tausendfacher, musste einen Ort, eine Zeit und ein Datum haben. Wo hatte er Klehr gesehen? Im Block 20? Wieso dort? Er selbst arbeitete doch im Block 21. Wie ist er von Block 21 zu Block 20 gekommen? Welche Eingangstür hat er benutzt? Längsseite? Schmalseite? Giebelseite? In welchem Raum hat Klehr getötet? Rechts vom Flur oder links vom Flur? War Klehr alleine oder waren Häftlinge im Raum? Hat Klehr beim Töten eine Schürze getragen oder einen Kittel? War der lila, rot, weiß oder gelb? Hatte er die Spritze in der Hand, als der Zeuge ihn sah? In der rechten oder in der linken Hand? Hat der Zeuge die Getöteten gesehen? Wie viele waren das? Eher zwanzig oder eher hundert und wo lagen die? Gab es zwischen Flur und Zimmer eine Tür – oder nur eine Wolldecke? Wie oft haben dort Tötungen stattgefunden? Einmal in der Woche oder jeden Tag?
    Er wollte ein glaubwürdiger Zeuge sein, dafür war er am Leben geblieben. Er durfte sich nicht verwirren lassen. Er durfte nicht an die Männer denken, die hinter ihm saßen und jedes seiner Worte verfolgten. Er durfte
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