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Der Schnupfen

Der Schnupfen

Titel: Der Schnupfen
Autoren: Stanislaw Lem
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sich in die Politik einmischte und Dr. Dunant patronisierte. Das ist so ein Billard, wissen Sie.«
    »Sollte ich Kugel oder Stock sein?«
    »Sie sollten, nehmen wir an, mitwirken beim Wiederausgraben der Akten Proques und mittelbar Dunant schaden… «
    »Und wenn es so war, was besteht dann für ein Zusammenhang zwischen dem Ziel meines Eintreffens in Paris und den politischen Intrigen in Frankreich?«
    »Keiner natürlich. Eben deshalb erscheint Ihnen die große Menge von Treffern, die mit solcher Präfizision genau auf das Zentrum des Rätsels zielen als Widerspruch zum gesunden Menschenverstand. Ich sage Ihnen: Fort mit der Gesundheit! In der Tat, für sich genommen ist jeder Abschnitt Ihrer Erlebnisse noch einigermaßen wahrscheinlich, aber die aus der Zusammensetzung dieser Abschnitte resultierende Trajektorie grenzt an ein Wunder. So denken Sie, nicht wahr?”
    »Gewiß…«
    »Mittlerweile ist geschehen, was ich Ihnen hier unten vor drei Wochen gesagt habe, mein lieber Herr. Bitte stellen Sie sich einen Schießstand vor, in dem statt einer Scheibe eine Briefmarke aufgestellt wird - eine halbe Meile vom Standort der Schützen. Es ist die Zehn-Centimes-Marke mit der Marianne. Auf ihrer Stirn hat eine Fliege einen Punkt hinterlassen. Und jetzt machen sich ein paar ausgewählte Schützen ans Schießen. Sie werden den Punkt bestimmt nicht treffen, weil sie ihn nicht ausmachen können. Wenn nun hundert mäßige Schützen sich ans Schießen machen und wochenlang schießen, ist es völlig sicher, daß schließlich irgendeiner von ihnen den Punkt trifft. Der Schütze trifft nicht, weil er phänomenal war, sondern weil so dicht geschossen wurde. Sind Sie einverstanden?”
    »Ja, aber das erklärt nicht… «
    »Ich bin nicht zu Ende. Es ist Sommer, und auf dem Schießstand mangelt es nicht an Fliegen. Die Wahrscheinlichkeit, gleichzeitig den Punkt zu treffen und eine Fliege, die sich vor den Lauf begeben hat, ist noch kleiner. Die Wahrscheinlichkeit, den Punkt zu treffen und mit derselben Kugel noch drei Fliegen, ist astronomisch gering, wie Sie sich ausgedrückt haben, und doch versichere ich Ihnen, daß auch eine solche Koinzidenz sich ereignet, wenn das Schießen nur lange genug anhält! «
    »Entschuldigen Sie, Sie reden von einer ganzen Sintflut von Schüssen, aber ich war ein einzelner…«
    »Das kommt Ihnen nur so vor. Im gegebenen Zeitabschnitt wird die Kugel, die den Punkt durch die drei Fliegen trifft, auch eine einzelne sein. Der Schütze, dem das passiert, wird sich mit seinem Erstaunen genauso brüsten wie Sie. Daß gerade er getroffen hat, ist weder wunderbar noch seltsam, weil jemand treffen mußte. Begreifen Sie?
    Der gesunde Menschenverstand nützt hier nichts. Es ist geschehen, was ich Ihnen vorausgesagt habe. Ein Lotteriemechanismus hat das Rätsel von Neapel geboren, und genauso ein Mechanismus hat es gelöst. In beiden Gliedern der Aufgabe wirkte das Gesetz der großen Zahl. Natürlich, hätten Sie eine einzige Bedingung aus ihrer notwendigen Menge nicht erfüllt, so hätten Sie sich nicht vergiftet, doch früher oder später hätte jemand anderes die Bedingungen erfüllt. In einem Jahr, in drei Jahren, in fünf Jahren. Es wäre dazu gekommen, denn wir leben nun einmal in einer solchen schicksalhaft verdichteten Welt. In einem molekularen Menschen-Gas, das chaotisch ist und mit seinen Unwahrscheinlichkeiten nur die einzelnen Atome, die Individuen in Erstaunen versetzt. Das ist eine Welt, in der das Ungewöhnliche von gestern zum Banalen von heute wird und das Extrem von heute zur Norm von morgen.”
    »Ja, aber ich … «
    Er ließ mich nicht zu Wort kommen. Barth, der ihn kannte, sah uns zu und zwinkerte, als müßte er sich das Lachen verbeißen.
    »Bitte um Entschuldigung, aber hier geht es nicht um Sie.«
    »Wenn nicht ich, wer dann? Ein Detektiv?«
    »Ich weiß nicht wer, und es interessiert mich auch gar nicht. Irgend jemand. Ich habe gehört, Sie trügen sich mit der Absicht, über diese Sache ein Buch zu schreiben?«
    »Barth hat es Ihnen gesagt? Stimmt, ich habe schon einen Verleger… aber warum sprechen Sie davon?«
    »Ich spreche davon, weil es zur Sache gehört. Irgendeine Kugel muß auf diesem Schießstand treffen, und irgendein Mensch muß den Kern der Sache treffen. Wenn es aber so ist, dann war das Erscheinen dieses Buches ohne Rücksicht auf den Autor und den Verleger ebenfalls eine mathematische Gewißheit.«
    ENDE
    November 1975
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