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Der Schnupfen

Der Schnupfen

Titel: Der Schnupfen
Autoren: Stanislaw Lem
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zehnmal, hob ihn an die Augen, drehte das Telegramm hin und her. Es war um 22.40 Uhr in Rom aufgegeben, also vor gut einer Stunde. Vielleicht ein ganz gewöhnlicher Fehler? Randy konnte ins >Hiltom umgezogen sein, er war in dem kleinen Hotel an der Spanischen Treppe abgestiegen, weil er nichts anderes gefunden hatte, jetzt gab er mir Kenntnis davon, daß er umgezogen sei. Oder er hatte meine Nachricht erhalten, ich war nicht eingetroffen, er hatte von der Einstellung der Flüge gehört und ein Telegramm abgesandt. Warum aber hatte man den Namen ausgerechnet so verdreht?
    Ich setzte mich an die Wand und überlegte, ob ich das nicht nur träumte. Der Fenstervorhang, das Fernsehgerät, die umgeschlagene Ecke des Teppichs, der Umriß der Schatten wurden zur Ankündigung von etwas Unbegreiflichem. Zugleich wurde die ganze Umgebung von mir abhängig. Sie existierte ausschließlich infolge meines Willens. Ich beschloß, den Schrank daraus zu eliminieren. Der Glanz der Politur wurde matt, die Kontur der Tür dunkel, die Wand platzte, in der unregelmäßigen schwarzen Bresche verkroch sich etwas Glitschiges. Ich versuchte, den Schrank wiederherzustellen, vergeblich. Das Innere des Zimmers verschwamm von den halbdunklen Ecken her, ich konnte nur retten, was im Licht verblieb. Ich griff nach dem Telefon. Der zu spöttischer Form verbogene Hörer rutschte mir aus der Hand, das Telefon war ein grauer Stein mit rauher Oberfläche und einem Loch anstelle der Scheibe. Meine Finger durchstießen die Oberfläche und berührten etwas Kaltes. Auf dem Tisch lag ein Kugelschreiber. Unter Anspannung aller Kräfte, damit er wirklich existent blieb, schrieb ich quer über das Telegrammformular mit großen Krakeln:
    2 3.20 NAUSEA
    23.50 ILLUSIONEN UND DELUSIONEN
    Aber während ich das schrieb, gab ich der Umgebung die Zügel frei und konnte sie nicht mehr beherrschen. Ich wartete auf den Zerfall des Zimmers, statt dessen kam das Unerwartete. Ich bemerkte, daß etwas in der Nähe vorging.
    Die Nähe war, wie ich begriff, mein KörPer. Er wurde größer. Hände und Füße entfernten sich von mir. Vor Angst, ich könnte mit dem Kopf an die Decke stoßen, warf ich mich auf das Bett. Ich lag auf dem Rücken, ich atmete mühsam, die Brust hob sich wie die Kuppel der Peterskirche, in jede Hand konnte ich ein paar Möbelstücke nehmen, ach was, das ganze Zimmer hätte darin Platz gehabt. Ein Alptraum! sagte ich mir. Ich darf ihn nicht beachten! Ich war schon so groß geworden, daß die Ränder des KörPers in der Dämmerung verschwanden. Sie irrten irgendwo herum, meilenweit entfernt. Ich verlor das Gefühl in ihnen. Nur das Innere blieb. Es war riesenhaft. Ein labyrinthischer Bereich, ein Abgrund zwischen meinem Denken und der Welt.
    Im übrigen gab es keine Welt mehr. Ich beugte mich atemlos über meinen Abgrund. Wo meine Lunge gewesen war, meine Eingeweide, meine Adern, ruhten jetzt nur die Gedanken. Sie waren riesig. Ich sah in ihnen mein Leben. Es war verästelt, zerdrückt, es glühte, verkohlte und wurde zu Asche. Es zerfiel in feurigen Staub, in eine schwarze Sahara. Sie war mein Leben. Das Zimmer, in dem ich lag wie ein Fisch auf dem Grund, schrumpfte auch zu einem Körnchen.
    Es war ebenfalls in mir. Und da das unablässige Wachstum außerhalb der Körpergrenzen andauerte, spürte ich Angst.
    Die schreckliche Macht meines gesprengten Raums, der alles in gierigem Anlauf verschlang, zerstörte mich. In die Tiefe gesogen, stöhnte ich vor Verzweiflung und begann, mich auf die Ellbogen zu heben. Sie stützten sich auf die Matratze irgendwo in der Mitte der Erde. Ich fürchtete, mit einer Handbewegung die Mauer einzustoßen. Zwar sagte ich mir, das sei unmöglich, zugleich aber spürte ich mit jeder Faser, jedem Nerv, daß es so war. In einem unvernünftigen Fluchtversuch wälzte ich mich vom Bett, ich fiel auf die Knie und gelangte an der Wand zum Schalter.
    Das Licht überflutete das Zimmer mit einer Bleichheit, die wie ein Messer schnitt. Ich sah den Tisch, von dem eine regenbogenfarbene Masse tropfte, das Telefon, das ausgelaugt war wie ein Knochen, fern im Spiegel mein schweißglänzendes Gesicht, ich erkannte es, aber nichts hatte sich geändert. Ich versuchte zu begreifen, was mit mir vorging, welche Macht mich sprengte und einen Ausweg suchte. War ich sie? Ja und nein. Die aufgedunsene Hand bleibt meine Hand. Aber wenn sie zu einem Berg Fleisch anwüchse und mich mit ihrem kochenden Massiv zuschüttete, könnte ich dann immer noch
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