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Der Schneider himmlischer Hosen

Der Schneider himmlischer Hosen

Titel: Der Schneider himmlischer Hosen
Autoren: Daniele Varè
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haben.»
    «Bisher. Aber ich bekomme allmählich das Gefühl, daß meine Tage gezählt sind. Es ist sonderbar. Ich sollte dieses Gesindel doch jetzt besser kennen als vor zehn Jahren, aber ich bin meiner selbst nicht mehr ganz sicher. Ich fühle mich den Chinesen nicht mehr himmelhoch überlegen wie damals, als ich sie noch weniger gut kannte. Und wenn man einmal anfängt zu zweifeln, dann wird es Zeit zur Heimkehr. Nur kann ich nicht heimkehren. Und so wird demnächst ein Bündel Kleider auf den Lößhängen liegen oder in einem Strudel des Flusses kreisen, und dieses Bündel Kleider wird Cante de’Tolomei sein, mit einem Bajonett im Leib.»
    «Aber lieber Signor Cante, warum lassen Sie sich nicht nach Pao-ting-fu versetzen, nach Hankau oder gar nach Peking selbst? Sie haben der Kin Han durch viele Jahre treu gedient. Man wird Sie ohne weiteres von Ihrem jetzigen Posten abberufen, wenn Sie sich einem so gefährlichen Dienst nicht mehr gewachsen fühlen. Ich kenne einige der Direktoren persönlich. Soll ich mit ihnen sprechen?»
    «Ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit. Aber ich muß gestehen, daß ich gar nicht versetzt werden will.»
    «Warum nicht? Ist das Leben am Gelben Fluß so schön?»
    «Nein. Aber es ist mein Leben. Es steckt mir im Blut. Ich kann es nicht aufgeben. Sie wissen, was das heißt, wenn einem China oder eine Provinz von China im Blut steckt. Es ist ein Laster wie Opiumrauchen. Wir wissen, daß es uns schlecht bekommt, aber ohne dieses Laster ist das Leben eben nicht lebenswert. Ich stamme aus dem schönsten Lande der Welt, und wenn ich den Wein, den weißen und roten Wein, den man in meinem Vaterland trinkt, mit dem widerlichen Zeug vergleiche, das ich hier trinken muß, so frage ich mich, welcher Teufel mich geritten hat, je meine Heimat zu verlassen. Seit vielen Jahren bin ich nicht mehr zu Hause gewesen. Seit Renatas Geburt nicht. Wie gerne würde ich Italien wiedersehen und sie mitnehmen. Aber dort bleiben — nein. Wenn ich daran denke, wie klein dort alles ist, dann verstehe ich nicht, wie Menschen überhaupt drüben leben können. Dante beschreibt uns sein Exil! Du lieber Gott, zuzeiten war er nicht weiter von daheim weg als im Schloß von Romena, in dessen Nähe meine Schwester lebt, in Poppi, im Casentino. Mit dem Autobus sind es kaum zwei Stunden nach Florenz, über den Paß von Consuma. Zu Dantes Zeit allerdings hat die Fahrt wohl länger gedauert. Aber was hätte er gesagt, wäre er in Kai-feng Fu gewesen?»
    «Immerhin dürfte er unter dem Exil mehr gelitten haben als Sie.»
    «Auch ich leide darunter, aber anderswo kann ich nicht leben. Sie kennen meinen Mittelpunkt der Welt. Es gibt wohl keinen einzigen Italienreisenden, der nicht Vallombrosa kennt und La Verna, wo der heilige Franziskus den Vögeln predigte. Können Sie sich einen größeren Gegensatz denken als diese Landschaft und die Umgebung des Gelben Flusses? Nicht umsonst wird er gelb genannt. Die Hänge sind gelb — zumindest im Winter — und die Ebene ist gelb und das Wasser ist gelb. Und die Menschen sind gelb. Es gibt nur noch eine Farbe außer Gelb: das Blau der Kattungewänder und das Blau des Himmels. Und der Fluß ist groß. Wollte ich bis zu seinen Quellen vordringen, ich würde ein Jahr dazu brauchen — wenn ich überhaupt hinkäme, was nicht sehr wahrscheinlich ist. Selbst die Fahrt zum Meer dauert fast eine Woche, mit dem Schiff wie mit der Bahn. Gewaltige Räume, gewaltige Entfernungen. Damit verglichen sind die Länder Europas winzig.»
    Signor Cante trocknete seine Stirne. Im Arbeitszimmer war es warm, und er hatte Temperament. Ich bot ihm etwas zu trinken an, aber er dankte.
    «Beinahe vergaß ich, weswegen ich herkam», sagte er. «Ich wollte Renatas Zukunft sicherstellen, für den Fall, daß mir etwas zustößt.»
    So selten hörte ich Kuniangs wirklichen Namen, daß ich einen Augenblick lang, als Signor Cante von «Renata» sprach, nachdenken mußte, wer wohl gemeint sei.
    «Ich will Ihnen die Adresse meiner Schwester in Italien geben», fügte er hinzu. «Für alle Fälle — wenn ein Unglück geschieht. Und dann möchte ich Sie fragen, ob Sie Kuniang wirklich behalten wollen, auch wenn Sie wissen, daß die Kleine im Fall meines Todes niemanden hat als Sie.»
    «Was würden Sie mit ihr machen, wenn ich sie nicht behalten könnte?»
    «Vermutlich nach Hause schicken, nach Italien, sowie sich jemand fände, der sie mitnimmt.»
    «Ein vorübergehender Aufenthalt in Italien täte Kuniang — ich
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