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Der Schneider himmlischer Hosen

Der Schneider himmlischer Hosen

Titel: Der Schneider himmlischer Hosen
Autoren: Daniele Varè
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einem gewissen Grad beaufsichtigt. Aber das schien nichts für Leute, die ihren Stolz darein setzen, «Künstlernaturen» zu sein.
    Ein- oder zweimal sah ich Kuniang an einer Zigarette paffen. Anscheinend fand sie aber wenig Vergnügen daran; da ihr kein Mensch das Rauchen verbot, bekam es niemals den Reiz der verbotenen Frucht und wurde nicht zur Gewohnheit.
    Wann immer ich die Kleine traf, wußte sie Neuigkeiten von den Russen, und was sie mir erzählte, bestärkte mich in der Meinung, daß die Leute lebten wie die Wilden.
    Aus Kuniangs Berichten ging hervor, daß Patuschka und Matuschka ungemein fromm waren. Sie nannten sich Staravierzi, Alt-gläubige, und hatten das Haus voller Ikone und Heiligenbilder mit metallenem Heiligenschein, der aus den Bildern herausstand. In der Inbrunst des Gebets warfen sie sich der Länge nach zu Boden und hielten es für fromm, sich zu Ostern zu betrinken — um ihre. Freude über die Auferstehung Christi würdig zum Ausdruck zu bringen.
    «Sie reden stundenlang von der Seele und erzählen mir, wie niedergeschlagen sie sind und was für entsetzliche Sorgen sie haben. Aber solange sie darüber reden können, macht es ihnen nicht viel. Und alles wird zur Ausrede, ein Fest zu feiern.»
    «Wie haben sie ihre Kinder erzogen?» fragte ich. «Bieten die auch die Butter mit der bloßen Hand an?»
    «O nein. Sie benehmen sich weit manierlicher als die Eltern. Wahrscheinlich, weil sie in China aufgewachsen sind, und hier haben ja alle Menschen Manieren. Patuschka zum Beispiel wirft unbekümmert seiner Frau eine Schüssel an den Kopf, wenn ihm das Essen nicht schmeckt. Aber hat er sie wirklich getroffen, dann fällt er vor ihr auf die Knie und beginnt zu weinen und küßt sie und bittet um Verzeihung. Auch Fjodor und der armen Natascha werden Sachen an den Kopf geworfen, aber die beiden würden so etwas nie tun. Sie sind unsicher, verträumt und wirklich nett. Sie wissen schrecklich viel und können über Politik und Kunst reden, aber am liebsten lassen sie Drachen steigen. Das haben sie von den Chinesen. Die Drachen kaufen sie auf dem Lung-fu-ssu-Markt, ganz glatt — und dann muß Fjodor sie bemalen. Einer seiner Drachen ist eine riesige Karikatur Patuschkas, der andere sieht aus wie Matuschka. So eine Bande! Ich glaube nicht, daß die Alten die Drachen aus der Nähe gesellen haben, und so wissen sie nicht, was sie darstellen. Aber wenn sie draufkommen, gibt’s Krach. Sie lassen sich nicht gerne verspotten.»
    Ich erinnerte Kuniang daran, wie oft wir früher, als sie noch mit ihren Eltern im roten Haus wohnte, Fjodor und Natascha gesehen hatten, wie sie mutterseelenallein auf der Straße spielten und die schiefe Tatarenmauer hinaufkletterten.
    Ich fragte: «Machen sie noch immer, was sie wollen, wie damals als Kinder?»
    «Meistens treiben sie sich herum, wo es sie freut, und tun, was sie freut. Andererseits behandelt man sie wieder wie die Kinder in Tom Sawyers Schule. Hinter dem Spiegel im Schulzimmer steckt eine Rute; die wird alle heilige Zeit hervorgeholt und verwendet, aber ohne eigentlichen Grund. Und zwar gewöhnlich, wenn der Gelbe Wind bläst. Fjodor und Natascha halten Prügel für selbstverständlich. Wahrscheinlich aus kindlichem Gehorsam.»
    Diese Einzelheiten überraschten mich nicht. Ich habe noch keine Schilderung russischen Familienlebens gelesen, in der nicht der eine oder andere verprügelt worden wäre. Der Held eines dieser russischen Romane war ein lungenkranker Hutmacher, der seine gelähmte Frau mit einem zerbrochenen Sonnenschirm verbleute. Auch Kuniangs Hinweis auf den Gelben Wind schien durchaus begreiflich. Die meisten Menschen in Nordchina werden während der Wintermonate ungeheuer nervös, weil die Luft so trocken ist, daß man einen elektrischen Schlag bekommt, wenn man Metall berührt oder den Pelz ablegt. Und diese nervöse Spannung wächst noch vor einem Sandsturm, der in Peking «Gelber Wind» heißt.
    Kuniang setzte hinzu: «Immer wenn dieser Wind bläst, klagen sie über . Ich wollte wissen, was das ist, und da sagten sie, es sei dasselbe wie . Aber auch was das ist, weiß ich nicht.»
    «Bei uns heißt es Koller», sagte ich. «Gib acht, sonst lassen sie ihn eines schönen Tages an dir aus.»
    «Bestimmt. Mit der Rute. Schon einige Male bin ich nur knapp entwischt. Matuschka tut, als gehörte ich zur Familie, und es hat keinen Sinn, sich über das, was sie tun, zu entrüsten.»
    «Du meinst, sie sind Naturkinder?»
    «Man kann es auch so
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