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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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achtete und gegen einen Stapel Büchsen trat, der mit Geschepper umfiel. Als der Junge seinen Blick von Gunnar abwandte, der fluchend zwischen zwanzig oder dreißig Dosen stand, befand sich Ragnheiður direkt vor ihm, nur die Ladentheke war noch zwischen ihnen, sie hatte sich einen Bonbon in den Mund geschoben. Nun ist auch daran nichts Besonderes, einen Bonbon im Mund zu haben, überhaupt nicht, aber sie lutschte langsam daran, und sie sahen einander in die Augen. So vergingen etwa tausend Jahre. Island war inzwischen entdeckt worden und wurde besiedelt. Oder an die zweitausend. Jesus wurde gekreuzigt, Napoleon fiel in Russland ein. Da nahm sie endlich den feuchten und glänzenden Bonbon aus dem Mund, beugte sich über die Theke und steckte ihn dem Jungen in den Mund. Seine Hand zitterte leicht, als er das Geld auf die Theke zählte. Ragnheiður strich es ein, und mit einem Mal schien er ihr vollkommen gleichgültig zu sein.
    Vielleicht will sie mich bloß quälen, dachte er, während er durch den Schnee von Tryggvis Laden fortstapfte, völlig verdutzt darüber, wie gut es sich anfühlen konnte, sich quälen zu lassen. Auch der Bonbon schmeckte unglaublich süß. Der Junge lutschte ihn voller Inbrunst, und das Herz pumpte Unruhe in sein Blut. Ihren lachhaften Abfluss bekam diese Unruhe in der folgenden Nacht, als er plötzlich aus einem Traum mit Ragnheiður aufwachte. Sie lag nackt neben ihm und hatte ein Bein über ihn gelegt, obwohl er doch keine Ahnung hatte, wie sie nackt aussehen mochte, sie war wunderbar warm, und sie fühlte sich unglaublich weich an, er schreckte plötzlich hoch und war überall nass. Leise musste er in den Keller schleichen, um seine Unterhose auszuwaschen, unter Mäusen, die langsam am bitteren Gift verrecken.

VI
     
    Der Junge hat sich angezogen, er liest noch zwei Gedichte von Ólöf und geht dann nach unten.
    Auf der Treppe schallt ihm Jens’ Schnarchen entgegen. An den wenigen Tagen, die er sich hier im Ort aufhält, übernachtet Jens im Gästezimmer im Erdgeschoss. Selten bleibt er länger als zwei Nächte, gerade so lange, bis sich die Pferde erholt haben, länger nur, wenn schlechtes Wetter aufzieht, wenn vom Meeresboden ein Unwetter mit uralter Wut heraufsteigt.
    Als der Junge unten ankommt, mischt sich Kaffeeduft in die Schnarchgeräusche, das Frühstück wartet schon auf ihn, Brot und Haferschleim. Kolbeinn kaut seine dick mit Leberwurst bestrichene Scheibe.
    Da kommst du ja endlich, um mich vor der unendlich guten Laune Kolbeinns zu retten, sagt Helga, und der Junge fühlt sich inzwischen so heimisch, dass er grinst und sich vom grimmigen Gesichtsausdruck des Kapitäns nichts anhaben lässt.
    Dass Jens bei seinem eigenen Schnarchen schlafen kann, sagt er.
    Manche haben einen gesegneten Schlaf, meint Helga und lauscht, ob das Kaffeewasser heiß wird. Die erste Kanne ist immer für Kolbeinn, der vor seinem ersten Morgenkaffee so mürrisch ist, dass sogar das Leben selbst einen Bogen um ihn macht.
    Der Kaffee kocht.
    Und der Duft dieses schwarzen Getränks!
    Warum müssen wir uns bloß so deutlich daran erinnern? Es ist so furchtbar lange her, dass wir haben Kaffee trinken können, viele Jahrzehnte, und trotzdem verfolgt uns der Geschmack noch immer. Unsere Körper sind längst in der Erde aufgefressen worden, das Fleisch ist von den Knochen gefault, grab uns nur aus, du wirst nichts mehr finden außer bleichen Knochen, und trotzdem haften die fleischlichen Gelüste noch immer an uns, wir werden sie so wenig los wie die Erinnerungen, die stärker sind als der Tod. Tod, wo ist dein Stachel?
    Es ist gemütlich warm in der Küche. Kolbeinn schnuppert, seine großen Hände um den leeren Becher geschlossen.
    Du möchtest noch mehr, sagt Helga, und der Alte nickt.
    Hast du heute überhaupt schon ein Wort gesprochen? Habe ich etwas verpasst?, fragt der Junge, aber Kolbeinn würdigt ihn keiner Antwort.
    Am frühen Morgen sind Wörter kostbar, meint Helga und gähnt. Außer Kolbeinn, der, verbraucht und zu nichts mehr nütze, langes Aufbleiben nicht mehr gut verträgt, sind sie alle erst spät schlafen gegangen, haben lange in der Gaststube gesessen, Jens hat auf Bitten von Geirþrúður noch weitere Neuigkeiten aus der Welt zum Besten gegeben, bis ihm die Stimme versagte, weil er betrunken war.
    Der Junge setzt sich an den Tisch und bemerkt erst jetzt zwei Kratzer auf Kolbeinns Wangen, an zwei Stellen ziemlich tief, sonst aber auf seiner dunklen Haut nicht gut zu sehen. Er wirft Helga
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