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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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wartet fast darauf, dass alles verschwindet, das Zimmer, das Haus, die Bücher auf dem Nachttisch, Andreas Brief – nein, sie hat ihn nicht verbrannt, der Briefbote für die Fischer ist kurz nachdem sie ihn beendet hatte bei den Fischerhütten vorbeigekommen, sie war noch immer im Zweifel, ob sie den Brief verbrennen sollte oder nicht, sie hat ihn dem Boten dann, ohne weiter zu überlegen, mitgegeben und sich anschließend schnell eines anderen besonnen, sie ist ihm nachgelaufen, um sich den Brief zurückgeben zu lassen, aber da ist der Postbote schon verschwunden gewesen, die Flocken und das Weiß hatten ihn verschluckt.
    Die Nachmittage und Abende können einem in diesem Haus lang werden, außer wenn in der Schankstube etwas los ist, und in den letzten beiden Wochen gab es da einiges zu tun, nachdem es für zwei Tage aufklarte und auf einmal Seeleute von den größeren Kuttern den Ort überschwemmten. Der Junge schenkte Bier, Toddy und Schnaps aus und kassierte dafür spöttische Bemerkungen. Meist kostet es ja nicht viel, den Mund aufzureißen, manche meinen, durch ungehobeltes und rüpelhaftes Benehmen würden sie für voller genommen. Trotzdem bleiben die meisten Abende ruhig. Dann schließt Helga die Gastwirtschaft, sie sitzen zu viert im Wohnzimmer, das Pendel in der großen Uhr hängt vollkommen still wie in grenzenloser Schwermut, der Junge liest Kolbeinn etwas von dem englischen Dichter Skakespeare vor, die beiden Frauen hören meist ebenfalls zu. Hamlet hat er durch und die Hälfte von Othello ; dabei hatte es ganz und gar nicht gut angefangen. Kolbeinn war nach der ersten Lesung so sauer, dass er mit dem Stock nach dem Jungen schlug. Schon während der noch las, hatte der Alte unterdrückt zu murren begonnen, was auch nicht gerade beflügelte. Der Junge bekam einen trockenen Mund, sein Hals schnürte sich zu, er flüsterte mehr, als dass er las.
    Du sollst nicht so lesen, als würde dir die Luft ausgehen, meinte Helga, nachdem Kolbeinn wie ein wütender Hammel aus dem Zimmer gestapft war. Lies einfach so, wie du atmest. Es ist ganz einfach, wenn du den Dreh erst einmal raushast.
    Wenn du den Dreh erst einmal raushast!
    Der Junge konnte in der Nacht kaum schlafen. Er wälzte sich in seinem prächtigen Bett herum, machte wieder und wieder Licht, schlug den Hamlet auf, betrachtete den schwindelig machenden Wortfluss und versuchte sich irgendwie darin zurechtzufinden.
    Sie schmeißen mich raus, flüsterte er. Wie, um alles in der Welt, atmet man Worte aus?
    Die zweite Lesung war ebenfalls schrecklich.
    So misslungen, dass dieses Stück englische Literatur, das nach tiefem Himmel und großer Verzweiflung schmeckte, zu einer völlig unbeseelten Einöde wurde.
    Nach fünf Minuten stand Kolbeinn auf, der Junge duckte sich unwillkürlich, aber es kam kein Schlag, der Krückstock lag reglos neben dem Stuhl. Kolbeinn streckte in äußerster Ungeduld die Hand vor, die an einen widerborstigen, alten Hund erinnerte.
    Du sollst ihm das Buch geben, sagte Helga ganz ruhig. Und dann stampfte der Unhold aus dem Zimmer, wobei er mit dem Stock herumfuchtelte, der in seiner Hand wütend zum Leben erwacht war. Na gut, dachte der Junge und saß resigniert da. Damit ist das auch vorbei. Im Sommer versuche ich, Arbeit beim Fischeinsalzen zu bekommen. Es ist auch zu schön gewesen, um wahr zu sein; es war ein Traum, und jetzt ist es an der Zeit, aufzuwachen. Er stand auf, setzte sich aber aus einem unerfindlichen Grund gleich wieder. Geirþrúður saß mit einer Zigarre in ihrem Sessel.
    Das war wahrscheinlich die schlechteste Lesung, die ich je gehört habe, sagte sie, und es klang ein wenig heiser, sie hatte schließlich ein Rabenherz. Aber keine Sorge, die Talsohle ist noch nicht erreicht. Wenn du auf die Weise weitermachst, kannst du noch schlechter werden.
    Das glaube ich kaum, murmelte er.
    Doch, doch, man soll die Menschen nie unterschätzen. Es gibt nur Weniges, was sie nicht kaputt machen können. Sie zog an der Zigarre, hielt das helle Gift einige Sekunden im Mund, ehe sie den Rauch durch die Nase wieder ausstieß. Wie Helga gestern abend schon gesagt hat, du solltest gar nichts denken, bloß lesen. Lies den Text nachher in deinem Zimmer noch mal. Morgen bekommst du tagsüber frei für deine Vorbereitung. Lies so lange, bis du den Unterschied zwischen dem Text und dir selbst nicht mehr spürst; dann kannst du lesen, ohne zu denken.
    Aber Kolbeinn hat das Buch mitgenommen.
    Du bekommst es wieder, wir holen es. Er selbst
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