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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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kein unterdrücktes Husten, kein Schnarchen, keines der anderen Geräusche, wenn sich jemand herumwälzt, einen fliegen lässt oder tief im Schlaf seufzt. Hier entscheidet der Junge sogar allein, wann das Licht gelöscht wird, er kann daher so lange lesen, wie er Lust hat. Das ist eine Freiheit, die ihn schwindelig macht. Ich lösche jetzt das Licht, hat der Bauer früher gesagt, wenn er der Meinung war, alle in der gemeinsamen Wohn- und Schlafstube seien lange genug wach geblieben, und dann schlug die Dunkelheit zu. Wer zu lange aufbleibt, kann am nächsten Tag nicht vernünftig arbeiten, und wer seinen Träumen nicht folgt, verliert das Herz.
    Langsam wird es hell.
    Mond und Sterne verblassen, bald fließt der Tag über sie hinweg, das blaue Wasser des Himmels. Ein freundliches Licht, das uns hilft, durch die Welt zu finden. Trotzdem besitzt dieses Licht keine große Reichweite, von der Erdoberfläche reicht es lediglich ein paar Dutzend Kilometer in die Atmosphäre hinauf, dahinter beginnt die Nacht des Weltalls. Genauso verhält es sich wahrscheinlich mit dem Leben, diesem blauen See: Hinter ihm wartet der Ozean des Todes.

IV
     
    Ich vermisse euch Jungs, irgendwie finde ich es schwerer zu leben als früher, schrieb Andrea aus den Fischerhütten. Sie saß auf ihrer Koje in der Dachkammer und benutzte ihre Knie und das Englischlehrbuch als Schreibpult. Pétur, Árni, Gvendur und Einar waren auf See, mit zwei Gelegenheitsarbeitern, die sie anstelle des Jungen, der überlebt hatte, und anstelle dessen, der gestorben war, angeheuert hatten. Das Meer atmete schwer da draußen im Schneefall, der die Welt ausfüllte und alles verschluckte. Andrea sah nicht einmal die andere Hütte, aber daran lag ihr auch nichts. Selbst durch den dichten Schneefall war der Atem des Meeres zu vernehmen, der schwere, dunkle Sog einer hirnlosen Bestie, die Tausende ernährte und fraß. Sie waren am Morgen ausgerudert und hockten jetzt vielleicht wartend über ihren Leinen, während sie den Brief schrieb; Pétur, dem die Angst in den Knochen steckte, weil alles in seinem Leben ihn zu verlassen schien. Ich vermisse euch Jungs, schreibt sie. Manchmal wünsche ich mir zwar, ich hätte euch nie kennengelernt, aber eigentlich ist mir im Leben kaum etwas Besseres passiert. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Es kommt mir so vor, als müsste ich eine Entscheidung über mein Leben fällen. Das habe ich noch nie getan. Ich kenne niemanden, den ich um Rat fragen könnte. Pétur und ich reden kaum miteinander, was, mit Ausnahme von Einar vielleicht, für keinen hier angenehm sein kann. Einar ist ein Unruhestifter. Er fixiert mich manchmal wie ein Stier die Kuh. Oh weh, warum schreibe ich so etwas? Du bist noch viel zu jung dafür und hast sicher mit dir selbst genug zu tun. Außerdem kann man meine Klaue kaum lesen. Ich glaube, ich zerreiße den Brief und verbrenne ihn dann.
    Ich habe Sehnsucht. Tage sind vergangen.
    Der Abstand zwischen Bárður und dem Leben wächst gnadenlos mit jedem Tag und jeder Nacht, die Zeit ist manchmal ein widerliches Biest, gibt uns alles, nur um es uns wieder zu nehmen.
    Der Junge ist aufgewacht, sitzt aufrecht im Bett und guckt ins Halbdunkel, seine nächtlichen Träume dünsten langsam aus ihm heraus, lösen sich auf, verschwinden. Die Uhr geht auf sechs zu, vielleicht hat Helga einmal leicht angeklopft, und er ist sofort aufgewacht. Fast drei Wochen sind vergangen, seit er mit lebensgefährlicher Poesie auf dem Rücken hierhergekommen ist. Welchen Nutzen sollte Lyrik auch haben, wenn ihr nicht die Kraft innewohnte, Lebenswege zu verändern? Es gibt Bücher, die dich unterhalten, dich aber nicht wirklich im Innersten bewegen. Und dann gibt es Bücher, die dich zweifeln machen, sie geben dir Hoffnung, sie erweitern die Welt und machen dich mit Abgründen bekannt. Auf diese Bücher kommt es an.
    Drei Wochen.
    Fast.
    Das Zimmer ist etwa so groß wie die Stube auf dem Bauernhof, in der sie zu acht oder zehnt gemeinsam schliefen, hier ist er allein mit all dem Platz. So, als hätte man ein ganzes Tal für sich allein, noch ein ganzes Sonnensystem neben dem eigentlichen Leben; so viel hat er ganz sicher nicht verdient. Das Schicksal teilt Glück und Unglück aus, mit Gerechtigkeit hat das nichts zu tun, anschließend ist es die Aufgabe des Menschen, zu verändern zu suchen, was geändert werden muss.
    Du bekommst das Zimmer, hat Geirþrúður angeordnet, und hier ist er, sitzt ganz verwirrt zwischen Schlaf und Wachen und
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