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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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wird wohl kaum viel darin lesen.
    Der Junge sitzt noch im Bett.
    Er lauscht, wie die Träume aus dem Blut weichen und ins Vergessen abdriften, dann steht er auf und zieht die schweren Vorhänge auf. Das Licht kommt ihm fast körnig vor, es lässt nichts im Verborgenen, und doch ist es, als sei alles ein wenig verfälscht oder unscharf, als würde sich die Welt nach der Nacht und dem schlechten Wetter der letzten Tage nur langsam wieder zusammensetzen. Im Schnee unten noch keine Spuren, aber es ist ja schon sechs, und also wird bald jemand losgehen und die Unberührtheit zertrampeln. Eine Dienstmagd auf dem Weg in eins der Geschäfte, Séra Þorvaldur auf dem Weg zur Kirche, um mit Gott allein zu sein und sich bei ihm ein bisschen Kraft zu holen. Er wird vor dem Altar knien, die Augen schließen und vergeblich versuchen, die beiden Raben nicht zu beachten, die so laut auf dem First des Kirchendachs trippeln, als ob die Sünde selbst auf dem Dach aufstampfen und auf sich aufmerksam machen würde. Vielleicht war es nicht Gott, der die Sünde erschaffen hat, sondern umgekehrt!
    Der Junge setzt sich in den weichen Sessel, streicht über den Brief, als wolle er sagen, ich habe dich nicht vergessen, wie könnte ich auch, nimmt dann ein Buch vom Nachttisch, Gedichte von Ólöf Sigurðardóttir. Er will bloß ein oder zwei von ihnen lesen, er muss zusehen, dass er nach unten kommt, Helga wartet garantiert mit einer Arbeit auf ihn: Schnee schieben, putzen, den Boden schrubben, Kolbeinn aus Zeitungen oder Büchern vorlesen, etwas aus Tryggvis Laden besorgen. Er liest, und sie spricht. Was für Worte!
     
Sie spricht, welche Worte. Sie lacht, o Herzens Klang.
Sie hasst, welcher Grimm. Sie bestimmt,
und das Urteil macht bang.
Sie streitet, welche Kraft. Sie liebt, o, dieser feurige Brand.
Sie droht, welche Macht. Sie wartet, dieser Drang.
    Er hört auf zu lesen und blickt vor sich hin. Sie liebt, sie droht, und das Urteil macht bang.

V
     
    Es war fast eine Woche später, als Helga ihn zu Tryggvis Laden schickte. Er sollte ein paar Kleinigkeiten besorgen, Schokolade und Bonbons für den Abendkaffee und Bittermandeln, die Helga mit Gift bestreichen und im Keller auslegen wollte, wo sich die Mäuse breitgemacht hatten. Gunnar hatte mit seinem Schnurrbart und einem spöttischen Grinsen hinter dem Ladentisch gestanden und zur eigenen Belustigung und der der Umstehenden zu einer Bemerkung angesetzt. Der Junge stöhnte innerlich, warum es denn nicht einmal ohne Leute gehen konnte, die andere mit ihren Worten erniedrigen wollen. Der Teufel piekst sie mit seinem Nagel, schon reißen sie den Mund auf. Da stand also Gunnar mit offenem Mund, zwei Ladengehilfen warteten gespannt, aber mehr als ein Jaja brachte er nicht heraus, denn Ragnheiður kam nach vorn und fragte die drei scharf, ob sie nichts zu tun hätten. Die beiden Ladengehilfen verschwanden so schnell, als hätte jemand sie verbrannt, Gunnar aber trat lediglich einen Schritt zur Seite und machte sich mit finsterem Blick an ein paar Dosen zu schaffen.
    Unter ihrem dunklen Pony hervor musterte Ragnheiður den Jungen nüchtern und distanziert. Er räusperte sich und bat dann leise und zögerlich um Leckeres für die Menschen und Tod für die Mäuse. Sie rührte sich nicht, ihre Augen wichen nicht von seinem Gesicht, ihre Lippen waren ein klein wenig geöffnet, man sah ihre weißen Zähne wie Eisberge hinter den roten Lippen. Der Junge räusperte sich noch einmal und wollte seine Bestellung wiederholen, da setzte sie sich in Bewegung, und er dachte bloß: nicht hingucken!
    Sie suchte Schokolade und Mandeln zusammen.
    Und er guckte hin.
    Wozu aber guckt man ein Mädchen an, was bringt das? Was bedeutet es für das Herz, diese Ungewissheit? Wird das Leben davon irgendwie besser, schöner?
    Was ist schon so Besonderes an Schultern, dachte er und versuchte vergeblich, seine Augen abzuwenden. Jeder hat Schultern, so ist es immer schon gewesen, auf der ganzen Welt. Schultern hatten die Menschen schon zur Zeit der alten Ägypter, und in zehntausend Jahren werden sie immer noch welche haben. Schulter, das ist die Gegend, wo ein Arm mit Schulterblatt und Schlüsselbein verbunden ist, ganz bestimmt ist es reine Zeitverschwendung, so etwas zu betrachten, wie rund so eine Schulter auch sein mag, nicht hingucken, befahl er sich selbst und schaffte es endlich, wegzusehen, als sie ihm ihr helles und kühles Profil zudrehte. Gunnar beobachtete die beiden so aufmerksam, dass er auf sonst nichts
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