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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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schauen sie die Frau an, die grinst und der nicht mehr kalt ist.
    Junge: Ist sie das?
    Jens: Was meinst du?
    Junge: Ist es die, die du gesehen hast, ich meine, die dir erschienen ist?
    Jens: Ich weiß nicht, was ich gesehen habe oder ob ich überhaupt etwas gesehen habe.
    Junge: Ich habe sie gesehen. Sie ist es.
    Jens: Ja, ja.
    Junge: Ich dachte, das gibt es nur im Märchen, dass die Toten weit herumlaufen, um die Lebenden zu suchen.
    Jens: Lass die Augen auf, Junge! Sonst bist du bald genauso mausetot wie sie, und was soll das dann bringen?
    Junge: Ich habe nur gelauscht, aber ich höre sie nicht mehr.
    Jens: Die da? Hör auf zu spinnen, sie ist tot. Und Tote geben verdammt wenig von sich.
    Junge: Ich habe sie seit Langem gehört, eigentlich seit wir uns oben am Anfang der Hochfläche von Bjarni verabschiedet haben. Jedes Mal, wenn ich die Augen zugemacht habe, und einmal auch so.
    Jens: Und was hast du gehört?
    Junge: Sie hat gelacht.
    Jens: Mir war nicht klar, dass es lustig ist, tot zu sein.
    Junge: Nein, das war ein eiskaltes Lachen und furchtbar freudlos. Ich weiß jetzt, wie Eiszapfen lachen.
    Jens: Du hast zu viel gelesen. Das ist gefährlich, man dreht am Ende durch und wird zum fürsorgebedürftigen Idioten.
    Junge: Sie hat auch mit mir geredet, nicht besonders nett, sie war nicht annähernd so freundlich und warmherzig, wie Hjalti von ihr behauptet hat.
    Jens: Das liegt daran, dass der Tod grausamer ist als das Leben. Aber jetzt hör mit dem Unsinn auf und komm auf die Beine! Wenn man stirbt, ist man tot und damit so weit davon entfernt, lebendig zu sein, wie du dir nur vorstellen kannst. Jetzt steh auf, mein Junge!
    Junge: Aber zum Schluss hat sie geweint. Das war ein trauriges Weinen.
    Jens: Auf jetzt!
    Ich kann nicht, sagt der Junge und schließt die Augen. Er ist zu müde, um sich länger mit Jens zu streiten. Am Ende hat sie geweint, wiederholt er. Ásta scheint ihr Gespräch mit anzuhören. Ihr grau durchsetztes Haar flattert im Wind.
    Ich bin auch müde, sagt Jens langsam und zwingt sich, den Blick von der Frau abzuwenden. Der Räucherduft steigt ihnen in die Nase und wühlt den Hunger auf. Der Junge öffnet die Augen, auch wenn es schwerfällt; er hat gehört, wie das Blut leise durch seine Adern zirkuliert und ihn in den Schlaf summt, darum schlägt er die Augen auf und schaut Jens fragend an. Du bist müde, sagt er.
    Jens blickt zur Seite, sein Bart ist ein einziger Eisklumpen. Dann sieht er den Jungen an. Du hast geblutet, sagt er.
    Das glaube ich auch, aber es ist nicht schlimm, antwortet der Junge.
    Nein, sagt Jens und guckt wieder die Frau an. Ich kann genauso wenig weiter wie du. Ich glaube, ich bin noch nie so müde und so kalt gewesen, aber jetzt geht es nicht darum, was man kann und was nicht, sondern darum, was man tut. Er bückt sich steif, streckt den fast gefühllosen rechten Arm vor und zieht den Jungen auf die Beine. Seite an Seite stehen sie da, der Sturm wütet noch immer, und eine Tote grinst sie an.
    Mir ist kalt, sagt der Junge.
    Gut, erwidert Jens, jetzt sollten wir herausfinden, in welche Richtung wir gehen müssen.
    Der Junge sieht Ásta an. Dann stellt er sich direkt vor sie, und es fühlt sich an, als ob sie durch seine Augen tief, tief in ihn hineinsähe, bis in sein Denken, und diesmal ist es ein sanfter Blick.
    Sie zeigt in die richtige Richtung.
    Jens schüttelt den Kopf und meint dann resigniert: Meinetwegen, die Richtung ist wahrscheinlich genauso gut wie eine andere.
    Sie richten sich ein wenig auf, schauen sich um, spähen in den Sturm, zurück und bergauf oder jedenfalls in die Richtung, die sie dafür halten, sehen aber natürlich nichts als Schnee. Jens ruft laut, er greift nach dem Posthorn und stößt hinein, dreimal, mit einigem Abstand. Das Signal rollt den Berg hinauf, und sie warten, solange sie können, aber von Hjalti ist nichts zu hören und zu sehen. Dann brechen sie auf, ehe Kälte, Hunger, Durst und Erschöpfung ihnen endgültig den Rest geben. Sie gehen in die Richtung, die Ásta ihnen zeigt. Sie ist schon ganz eingeschneit und wird sicher bald völlig unter dem Schnee verschwinden. Jens nimmt ein paar zerbrochene Bretter vom Sarg und steckt sie rundum in den Schnee, weil es vielleicht hilft, sie wiederzufinden – sofern sie denn bewohntes Gebiet erreichen sollten, was ihnen mittlerweile vollkommen abwegig vorkommt, sind sie denn nicht aus der Zeit ausgetreten? Sind sie nicht aus der Welt gefallen und dazu verdammt, die nächsten tausend Jahre in
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