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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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mindestens hundertfünfzig Meter, dann kommt ein unebener Absatz, eine Schulter, knapp einen Kilometer lang, dann wieder ein Abhang, genauso steil, und an seinem Fuß steht der höchstgelegene Hof der Ortschaft – weiter ist es nicht mehr, Leute!
    Ist das der Hof, auf dem die Freundin lebte, erkundigt sich der Junge.
    Was? Nein, der ist längst aufgegeben. Aber jetzt geht es vor allem darum, den Sarg nicht loszulassen. Wenn der jetzt Fahrt bekommt, dann schießt er ab, und in diesen Verhältnissen auf Nimmerwiedersehen, ich glaube, dann dürfte so einiges zu Bruch gehen. Also, lasst auf keinen Fall die verdammte Kiste sausen!
    Das haben sie nicht vor.
    Kraftlos wie alte Männer und tapsig wie neugeborene Kälber tasten sie sich Schritt für Schritt nach unten, stemmen sich gegen den schwindelerregenden Abhang und den wütenden Sturm, der Schlitten rutscht ihnen regelmäßig in die Hacken: los, los, der Tod hat’s eilig. Langsam, langsam, ruft Hjalti. Aber es ist furchtbar kraftraubend, sie bleiben inzwischen nach fast jedem Schritt müde und erschöpft stehen, der Wind heult und faucht um sie herum, und jetzt hören sie untergründig auch ein dunkleres Orgeln zu ihrer Rechten, das aus der Schlucht heraufkommt. Sie stehen oder liegen fast im Halbkreis.
    Hört ihr das, raunt Hjalti. Sie liegen ganz dicht beieinander, wie um Schutz zu suchen und noch mehr Leben zu spüren als nur das eigene. Das ist sie. Sie ruft nach ihrem Tribut.
    Red nicht so’n Blödsinn!, ruft Jens dagegen.
    Hjalti rückt noch näher, unmittelbar bis an ihre Gesichter, sie fühlen seinen Atem, sehen tief in seine Augen, es sieht so aus, als seien die Netzhäute vor Schmerz, Enttäuschung und Ohnmacht gesprungen. Hol’s der Teufel, Männer, wird man denn nur in diese Welt geboren, um zu verrecken?
    Was kann man darauf antworten? Nichts natürlich, aber einige Augenblicke lang sieht es so aus, als würden sie alle nach einer Antwort suchen, oder sie starren nur gedankenlos vor sich hin, sind einfach erledigt, völlig ausgelaugt, wissen nichts mehr von sich selbst, wissen von nichts mehr und überlassen sich der Erschöpfung. Und der Schlitten stiehlt sich davon. Ganz langsam. Jens fühlt etwas an sich entlangstreifen, schaut auf, sieht den Schlitten und denkt: da fährt er hin; dann lässt er den Kopf wieder sinken. Aber nur für zwei, drei Sekunden, dann springt er so schnell auf, dass er fast wieder hinfällt, schreit: Der Sarg!, und flitzt los. Hjalti und der Junge kommen zeitgleich wieder zu sich, rappeln sich auf und laufen hinterher. Der Schlitten hat einen kleinen Huckel überwunden und nimmt Fahrt auf. Es geht steil bergab, der Wind schiebt, die Männer laufen hinterher. Wenn man ihre Bewegungen laufen nennen kann. Die Männer sind am Ende, Hjalti und Jens sind ohnehin alles andere als geschmeidig, laufen sind sie nicht gewöhnt, sie bewegen sich wie Robben an Land, atmen beide mit offenem Mund, sind rasch platt und stürzen dennoch weiter. Das ist der Augenblick des Jungen, denn wenn es irgendetwas gibt, das er kann und beherrscht, dann ist es laufen. Die Müdigkeit, die ihn soeben noch gelähmt hat, ist von ihm abgefallen, die Freude am Laufen lässt sie verfliegen, pulst durch seine Adern, und mit Leichtigkeit überholt er die beiden Hünen, läuft zwischen ihnen hindurch, hört ihren keuchenden Atem und sprintet dem Schlitten mit dem Sarg nach, hetzt in langen Sätzen rasend schnell den steilen Hang hinab, geschoben vom Wind, es sieht aus, als würde er beinah fliegen, und er kann die Geschwindigkeit noch erhöhen, wobei ihn ein Lachen packt. Er rennt, er fliegt, er holt den Schlitten ein, streckt den Arm aus, bekommt den Sarg zu packen und springt; er hebt vom Boden ab, und der Wind schleudert ihn auf den Sarg, fast fliegt er wieder runter, kann sich aber festhalten, er kommt rittlings auf dem Sarg zu sitzen, klammert sich an einen steif gefrorenen Strick, bekommt irgendwie den Handschuh daruntergeschoben und hält sich so, wie schnell der Sarg auch dahinschießt, welche Bocksprünge er auch macht; einmal schießt er über eine Abbruchkante und fliegt durch die Luft, aber der Junge bleibt oben. Der Hang fällt noch steiler ab, wird zum Steilhang, ein Abgrund, ein lebender Junge und eine tote Frau, und schneller kann er wohl kaum noch werden, der Wind tobt hinterher, verliert sie beinah, Schnee ritzt die eiskalte Haut, seine Nasenflügel weiten sich, er riecht den Räucherduft, den Geruch von geräuchertem Lammfleisch, und er lacht
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