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Der Schlangenmensch

Der Schlangenmensch

Titel: Der Schlangenmensch
Autoren: Stefan Wolf
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Reifen stoppten, drehte Anke sich nicht um. Und Gaby machte ein
Gesicht, als wäre ihr im Küchengarten die gesamte Petersilie verhagelt.

    „Wünsche einen prächtigen
Sonntagmorgen, die Damen“, lärmte Klößchen mit kaum noch hörbarer Heiserkeit.
    „Pst!“ funkelte Gaby ihn an.
    Erschrocken zog Klößchen den
Kopf ein.
    In Tarzans Magen schien sich
die vorhin genossene Milch zu einem großen Quarkklumpen zu ballen.
    Um Gottes willen, dachte er,
Anke heult. Ich seh doch, wie ihre Schultern zucken. Deshalb dreht sie sich
nicht um. Was ist da...? Doch nicht etwa die Mutter! Die soll ja so krank
sein... Ob...?
    Er stieg ab und trat neben das
Mädchen. Behutsam berührte er ihren Arm.
    „Hallo, Anke! Was ist denn?
Können wir dir helfen?“ Weinend schüttelte sie den Kopf.
    Sie war zartgliederig und etwas
kleiner als Gaby. Ihre rehbraunen Augen wirkten meistens verträumt, manchmal
auch verängstigt. Sie hatte eine schmale, gerade Nase und dunkles Haar, das ihr
— zu einem Zopf geflochten — auf den Rücken hing.
    Jetzt rollten ihr dicke Tränen
übers Gesicht, und die Lider waren gerötet.
    Schnüffelnd holte sie ein
Taschentuch aus dem Ärmel ihres roten Pullovers.
    „Ich glaube, wir gehen lieber
auf den Hof“, schlug Gaby vor. „Da sind wir ungestört. Es ist wirklich schlimm,
was Anke erzählt.“
    Klößchen zwinkerte heftig mit
betretenem Gesicht. Wenn andere weinten, saßen auch ihm die Tränen locker —
selbst wenn er noch gar nicht wußte, was den Gram verursacht hatte. Über solche
Situationen half nur Schokolade. — Sie ließen die Räder zurück und gingen durch
den Flur auf den Hof, wo sie sich auf eine Bank setzten.
    Anke schneuzte sich und sagte:
„Euch geht’s bestimmt auf den Wecker, wenn ich mit meinen Sorgen komme.“
    „Eigentlich müßtest du uns
kennen“, sagte Tarzan.
    Sie nickte. „Entschuldige. Aber
es ist einfach zuviel. Meine Mutti ist krank. Die Tankstelle geht schlecht. Sie
liegt zu weit abseits. Mein Vati wird von den Schulden bald erdrückt, und
jetzt... jetzt...“, sie schluchzte heftig, „soll er auch noch ins Gefängnis.“
    „Weshalb denn das?“ forschte
Tarzan erstaunt.
    „Das hat eine Vorgeschichte“,
sagte Gaby.
    Anke nickte und schneuzte sich
abermals.
    Die Jungs warteten gespannt.
Klößchen biß von der Schokolade ab, die er als eiserne Ration (Notverpflegung) immer bei sich hatte.
    Mit einem Blick holte Gaby sich
bei Anke Erlaubnis ein, ob sie erzählen durfte.
    „Ankes Vater“, begann sie,
nachdem Anke genickt hatte, „hatte eine schwere Jugend. Er wuchs ohne Eltern
auf. Und
    „In Heimen“, ergänzte Anke, „wo
es sehr lieblos zuging.“
    „In Heimen“, wiederholte Gaby.
„Er fing zwar eine Schlosserlehre an. Aber wegen widriger Umstände konnte er
sie nicht beenden. Noch als Jugendlicher entdeckte er eine besondere Fähigkeit
an sich: Gelenkigkeit. Irgendwie kam es dann dazu, daß er mit einem Zirkus
herumzog. Erst als Stallbursche, später auch als Artist. Richtig, Anke? So hast
du’s doch eben erzählt?“
    „Ja.“ Anke hatte sich soweit
erholt, daß sie fortfahren konnte. „Mein Vater wurde Schlangenmensch. Guiseppe,
der Schlangenmensch. Guiseppe nannten sie ihn sicherlich, weil er mit Vornamen
Günther heißt. So weit, so gut. Aber als der Zirkus Pleite machte und mein Vati
ohne Arbeit und Geld dastand, da geriet er auf die schiefe Bahn.“
    Ein Spatz hüpfte heran. Es sah
aus, als tanze er auf einem Sonnenstrahl.
    Klößchen brach eine halbe Nuß
aus seiner Schokoladentafel und warf sie ihm hin. Mit ihr im Schnabel,
schwirrte der Gefiederte ab.
    „Er ließ sich... von
Einbrechern anwerben“, flüsterte Anke.
    Tarzan spürte, wie schwer es
dem Mädchen fiel, das zu erzählen.
    „Ja, von Einbrechern.“ Anke
schluckte. „Denn keiner konnte so gewandt wie er in Häuser einsteigen. Als
Schlangenmensch hatte er das ideale Training gehabt. Er konnte sich durch
engste Gitterstäbe zwängen, durch kleinste Fensteröffnungen, durch Luftschächte
— und auch als Fassadenkletterer von Balkon zu Balkon muß er sehr erfolgreich
gewesen sein. Es ist furchtbar.“
    „Als junger Mensch kann jeder
mal straucheln“, sagte Tarzan. „Hauptsache, er läßt dann die Finger davon und
findet in ein geordnetes Leben zurück.“
    Anke nickte heftig. „Das finde
ich auch. Und damals — als bei einem Einbruch ein Mensch verletzt wurde — hat
mein Vati auch endgültig mit diesen Verbrechen aufgehört. Er hat einfach nicht
mehr mitgemacht, obwohl die
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