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Der Scheich

Titel: Der Scheich
Autoren: Edith Maude Hull
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besitze, habe ich dir vermacht, lieber Bruder. Brauchst du noch mehr Beweise meiner treuen Ergebenheit?»
Ohne auf seinen erbosten Ausruf zu achten, schaute sie wieder in den Garten. Was für eine schöne Nacht, still bis auf das eintönige Zirpen der Zikaden, und so geheimnisvoll - erfüllt von der unerklärlich seltsamen Stimmung des Orients. Die Düfte des Morgenlandes stiegen zu ihr empor, und wie in der englischen Heimat wirkten sie nachts viel intensiver als tagsüber. Zu Hause hatte sie oft auf ihrem kleinen steinernen Balkon gestanden und die Gerüche der Finsternis eingeatmet - den erdigen Geruch, wenn es geregnet hatte, den Geruch der Kiefern. Diese betörenden nächtlichen Düfte hatten sie in ihrer Kindheit zum erstenmal bewogen, an den dichten Efeuranken vom Balkon hinabzuklettern. Dann war sie durch den morgendlichen Park gestreift und hatte sich sogar in den dunklen angrenzenden Wald gewagt und den Reiz des Verbotenen genossen. Sie kannte keine Angst.
Diana hatte eine seltsame Kindheit hinter sich. Unbehelligt von nahen Verwandten, die sich um das mutterlose Mädchen gekümmert hätten, wuchs sie in der Obhut ihres Bruders auf, der fast zwanzig Jahre älter war als sie und mit seinem Entsetzen über die aufgezwungene Verantwortung nicht hinter dem Berg hielt. Für den selbstsüchtigen, reiselustigen jungen Mann war die kleine Schwester eine unerträgliche Bürde, und er hatte sich, so gut es ging, vor seiner Pflicht gedrückt. In ihren ersten Lebensjahren vertraute er sie Kindermädchen und Dienstboten an, die sie hemmungslos verwöhnten. Als sie noch ein kleines Mädchen war, kehrte Sir Aubrey Mayo von einer ausgedehnten Reise zurück, blieb ein paar Jahre daheim und widmete sich Dianas Erziehung, wobei er sich seine eigene zum Beispiel nahm. Wie ein Junge gekleidet und wie ein Junge behandelt, lernte sie reiten, jagen und angeln - nicht zu ihrem Vergnügen, sondern damit sie ihm später dabei Gesellschaft leisten konnte, denn andere Interessen hatte er nicht. Nur zum Schein umgab er sich mit einer trägen, gelangweilten Aura. In Wirklichkeit war er ein unbeugsamer Mensch und wollte auch seine Schwester zur Härte erziehen. Deshalb behandelte er sie streng und spartanisch, ohne Zugeständnisse an ihr Geschlecht oder ihr Temperament. Und seine Bemühungen fielen auf fruchtbaren Boden. Diana stürzte sich mit Feuereifer in das mühsame anstrengende Leben, das er ihr zugedacht hatte. Nur die unerläßlichen Schulstunden trübten ihr ansonsten paradiesisches Dasein, aber auch damit ließ sich leben. Jeden Morgen ritt sie durch den Park zum Pfarrhaus, wo sie vom Gemeindepriester unterrichtet wurde. Sein Herz gehörte eher seinem Pferdestall als der Kirche, und seine Predigten interessierten ihn längst nicht so brennend wie die weltlichen Dinge. Am Lehrerpult zeigte er sich rauhbeinig und ungeduldig. Aber Diana war intelligent und eignete sich ein erstaunlich vielseitiges Wissen an. Kurz nach ihrem fünfzehnten Geburtstag wurde die Schulzeit abrupt beendet. Ein junger Rabauke wurde von seinem verzweifelten Vater ins Pfarrhaus geschickt, der die kräftigen Ohrfeigen des gestrengen Priesters als letzte Rettung für seinen Filius betrachtete. Und anders als die Menschen, die Diana Mayo seit ihrer Geburt kannten, bemerkte dieser Bursche sofort, welche Schönheit sich da unter der Knabenkleidung versteckte. Kühn machte er ihr Komplimente, nutzte die erstbeste Gelegenheit und versuchte sie zu küssen. Bisher hatte ihm seine schmucke Erscheinung stets beim weiblichen Geschlecht zu Erfolg verholfen. Diesmal aber mußte er sich mit einer jungen Dame auseinandersetzen, die nur zufällig als Mädchen zur Welt gekommen war. Gegen ihre geübten Fäuste und ihre Kraft, von hellem Zorn verstärkt, konnte er sich nicht wehren. Ehe er wußte, wie ihm geschah, hatte er ein blaues Auge, und sie umtanzte ihn wie ein wütender Kampfhahn. Vom Lärm angelockt, eilte der Pfarrer herbei und vollendete, was sie begonnen hatte.
Atemlos und erbost ritt er mit ihr durch den Park und erklärte Sir Aubrey, der soeben von einer Reise zurückgekehrt war, seine Schülerin sei zu alt und zu hübsch, um ihre Studien im Pfarrhaus fortzusetzen. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ließ Sir Aubrey mit diesem neuen Problem allein. Aber es wurde bald gelöst. In körperlicher Hinsicht war sie längst imstande, die Rolle zu übernehmen, die er ihr zugedacht hatte. Und was den Geist betraf, wußte sie mittlerweile genug. Außerdem konnten die
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