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Der Schatten im Wasser

Der Schatten im Wasser

Titel: Der Schatten im Wasser
Autoren: Inger Frimansson
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waren schließlich bereits vor den Menschen dort ansässig gewesen.
    Einer der Männer auf ihrer Arbeitsstelle, Dag, erzählte manchmal von den Erlebnissen während seines Dienstes als Inspektor auf Spitzbergen. Acht Wochen lang war er dort stationiert gewesen, um die Papiere der Freizeitboote zu kontrollieren sowie Eisbären und Vögel zu zählen. Eines Morgens trafen sie einen älteren Mann, der durch ein ungewöhnliches Geräusch aus dem Schlaf gerissen worden war, und als er aufsprang, stand ein Bär in seinem Zimmer. Das Gewehr des Mannes hing vorschriftsmäßig an der Wand, jedoch hinter dem Bären, sodass er keine Chance hatte, dranzukommen. Rein instinktiv fiel er zu Boden und stellte sich tot. Er hätte auch schreiend um sich schlagen und auf diese Weise versuchen können, den Eisbären zu erschrecken. Doch er wusste, dass dieses Verhalten auch den völlig entgegengesetzten Effekt auslösen konnte. Das Tier würde sich möglicherweise provoziert fühlen und zum Angriff übergehen. Außer sich vor Angst lag der Mann also am Boden und horchte auf die pfeifenden Atemgeräusche und das laute Rascheln des Bären, er spürte seine raue Nase, nahm wahr, wie sie um seinen Körper herumschnüffelte. Ein hungriger Eisbär ist lebensgefährlich. Das wusste er nur zu gut.
    Dag legte an diesem Punkt der Erzählung immer eine kleine Pause ein. Man spürte förmlich, dass er die Reaktionen genoss.
    »Schließlich trottete er jedenfalls von dannen. Wir trafen den Mann direkt danach und folgten ihm in sein Haus. Dort sah es erbärmlich aus. Die Bestie hatte eine Tonne mit altem Speck umgekippt und den Inhalt überall verschmiert. Außerdem hatte er das kleine Badehäuschen in der Nähe praktisch dem Erdboden gleichgemacht. Der Typ hatte ganz schön die Hosen voll. Und das, obwohl er nun wirklich kein Grünschnabel mehr war.«
     
    Jill musste pinkeln. Auf leisen Sohlen tastete sie sich ins Bad. Der Wecker zeigte auf sechs Uhr. Sie betätigte die Spülung und schlich sich zurück. Tor schlief noch. Vorsichtig schob sie die Gardine einen Spalt breit zur Seite und spähte hinaus in den kühlen Morgen. Ein Möwenjunges saß einsam und mit eingezogenen Flügeln dort und sah aus, als würde es frieren. Schon in der Nacht hatte sie die schrillen, eindringlichen Schreie, die es von sich gegeben hatte, gehört. Auch jetzt schrie es wieder, stieß die Laute förmlich mit dem ganzen Körper hervor. Drehte den Kopf und suchte nach seiner Mama, außerstande einzusehen, dass sie ihren Teil der Brutpflege nun erledigt hatte und es von jetzt an auf sich selbst gestellt war.
    Tor bewegte sich zwischen den Laken und öffnete plötzlich die Augen. Schaute zum Fenster, als hätte er erwartet, jemanden dort stehen zu sehen, jemand anderen als sie.
    »Guten Morgen«, sagte sie leise.
    Er nickte und zog die Decke dichter um sich. Verkroch sich förmlich in ihr, wie eine Schnecke in ihrem Gehäuse.
    »Wie spät ist es?«
    »Schlaf noch ein bisschen.«
    »Nein, ist schon okay.«
    »Wie fühlst du dich?«
    »Na ja, es geht. Gut.«
    »Nicht mehr seekrank?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Und du?«
    »Ich schaue gerade nach dem Möwenjungen, das wir gestern Abend gesehen haben. Es sucht immer noch nach seiner Mama.«
    »Hm.«
    »Hoffentlich kommt es durch.«
    Tor antwortete nicht. Sie war es gewöhnt. Sein Schweigen, seine Art, tief in sich selbst zu versinken. Nach einer Weile begann er zu husten.
    »Ich habe heute Nacht wieder von ihr geträumt.«
    »Berit?«, fragte sie, obgleich sie es bereits wusste.
    »ja.«
    »War es ein schöner Traum?«, fragte sie vorsichtig.
    »Sie war in eine Wohnung umgezogen. Ich war so verdammt glücklich, das zu erfahren, also klingelte ich, und sie öffnete. Ihre Züge waren glatt und weich, sie war nicht gerade dick geworden, aber fülliger und irgendwie strahlend. Ach du bist es, sagte sie. Sie schien nicht im Geringsten erstaunt, ihr Gesicht war wie aus Porzellan.«
    »Porzellan?«
    »So zart und dezent geschminkt, wie sie sich immer zurechtmachte.« Er unterbrach sich. »Zurechtmacht!«, verbesserte er sich angestrengt.
    »Ja, zurechtmacht«, wiederholte sie. Er lag eine Weile still, tastete dann nach seinem Zigarettenpaket. Nahm es in die Hand, drehte und wendete es.
    »Sie stand in der Türöffnung und lächelte so einladend mit ihren sinnlichen Lippen, rot und glänzend, doch als sie den Mund öffnete und zu reden begann, merkte ich, dass sie betrunken war.«
    »Wie, betrunken?«
    »Besoffen war sie,
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